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Herbst des Lebemannes

Gabriel García Márquez: Erinnerung an meine traurigen Huren.  Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
160 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 50,  09.12.2004, Seite 21

 

NOVELLE Gabriel García Márquez erinnert sich ohne Wehmut an seine „traurigen Huren“

 

Nach zehn Jahren erzählerischer Enthaltsamkeit ist es endlich so weit: Gabriel García Márquez, der Meister sinnlicher Erzählkunst, unterbricht die Arbeit an seiner Autobiografie für eine Novelle – wie kann es anders sein – über die Liebe. Mit dem mittlerweile 77-jährigen kolumbianischen Schriftsteller scheinen auch seine liebestollen Helden in die Jahre gekommen zu sein, denn der Protagonist des kurzen Romans ist ein rüstiger Greis. Der Titel „Erinnerung an meine traurigen Huren“ fiel mir, so der namenlose Ich-Erzähler der Geschichte lakonisch, „in den Schoß“.

 

Der wenig attraktive ledige Pensionist blickt auf ein mittelmäßiges Leben von bewundernswerter Gleichförmigkeit zurück. Über ein halbes Jahrhundert lang schreibt er die wöchentlich erscheinende Sonntagsglosse im „Diario de la Paz“. Und er bringt es – seit er mit elf Jahren von Castorina, der Königin der Nachtschwalben, gewaltsam in die Liebe eingeführt wurde – bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr auf stattliche fünfhundertvierzehn Frauen. Jetzt wohnt er in „heiligem Frieden mit seinem Körper“ in der elterlichen Villa, wo er sich mit einer gediegenen Bibliothek und klassischer Musik eingerichtet hat und „wo ich mir vorgenommen habe, allein zu sterben, in eben dem Bett, in dem ich geboren wurde“.

 

Aber einen Tag vor seinem neunzigsten Geburtstag drängt ihn angesichts des biblischen Alters das plötzliche Begehren, das Fest mit einer libertinen Nacht in den Armen einer Jungfrau zu begehen. Die bekannte Puffmutter Rosa Cabarcas erfüllt ihm den Wunsch und legt ihm am Vorabend des 29. August ein vierzehnjähriges nacktes Mädchen schlafend auf das „Gabenbett“. Aber weder in dieser noch in den folgenden Nächten wird der zweimal zum Bordellkunden des Jahres gekürte Ex-Casanova mit dem „Prügel eines Galeerensklaven“ den Erwartungen des Lesers und Rosa Cabarcas' gerecht. Die Unschuld und Schutzlosigkeit der jungfräulichen Kleinen aus der Knopffabrik verzaubert alle seine fünf Sinne. So legt sich der nur mit seidenen Unterhosen mit aufgedruckten Kussspuren bekleidete professionelle Liebhaber von nun an regelmäßig schamvoll neben seine schlafende Delgadina, singt ihr Lieder ins Ohr, liest vor und schläft stets selig, ihre Hand in der seinen, neben ihr ein. Obwohl die Symptome der Vergänglichkeit unübersehbar sind – die Villa zerfällt, das Herbst-Unwetter bedroht die undichte Bibliothek, die Möbel vermodern, und das Herz des alternden Liebhabers kommt aus dem Tritt –, wird das Mädchen zur ersten Liebe seines Lebens mit neunzig Jahren.

 

Die Leidenschaft für das engels-, ja göttergleich überhöhte Mädchen mit der „Ausstrahlung des Apoll von Praxiteles“ verführt den verjüngten Greis zu überschwänglichen Liebesbeweisen: Er kauft Geschenke, fährt singend auf dem Fahrrad über den Markt und erwirbt mit seinen affektvollen Glossen lokale Berühmtheit als „Meister der Liebe“. Delgadina beherrscht die Vorstellungskraft des greisen Gelehrten so vollständig, dass er sie in seinem Haus neben sich zu spüren meint: „Ich erinnerte mich daran, wie sie am nächsten Tag das Frühstück bereitete, das es nie gegeben hat.“ So weit, dass sie nur in seiner Imagination wirklich präsent ist; dagegen, wenn „ich sie leibhaftig vor mir hatte und berührte, erschien sie mir unwirklicher als in meiner Erinnerung“.

 

Die Grenzen von Wirklichkeit, Fiktion und Erinnerung verschwimmen, oder die Verhältnisse drehen sich sogar um: „Die Wirklichkeit erschien mir phantastisch.“ Wie in dem vom greisen Helden geliebten „Zauberberg“ verändert sich in einer Art Zeitvakuum das Bewusstsein, „es ist, als ob die Zeit nie verginge.“ Ein Zwischenfall im Bordell zerbricht die Illusion des paradiesisch zeitenthobenen Liebesglücks, und der Verlust von Delgadina konfrontiert den Liebhaber mit der plötzlich hereingebrochenen Realität, „dass ich, alt und mutterseelenallein, gerade dabei war, vor Liebe zu sterben“.

 

In der mit Rosa Cabarcas geteilten Erkenntnis „Der Bolero ist das Leben“ bewegt er sich im Schutz des sentimental verlangsamten Rhythmus auf den unausweichlichen emotionalen Höhepunkt zu. Nach einer eruptiven Eifersuchtsszene findet der Antigreis – geläutert durch eine Beichte bei Ex-Hure Casilda Armenta, einer wohlfeilen Liebe aus alten Zeiten – mit Vollendung des Jahreskreises „endlich das wirkliche Leben, mein Herz war gerettet und dazu verdammt, an wahrer Liebe zu sterben, in glücklicher Agonie, an irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag“.

 

Die Prosa Márquez' besticht in „Erinnerung an meine traurigen Huren“ durch die mit großer erzählerischer Macht gebändigte sinnliche Sprachgewalt. Wie in Skizzen alter Meister zeichnet er das Wesentliche mit einigen unscheinbaren Linien: seien es die Konturen der zufällig nackt beim Mittagsschlaf überraschten Ximena Ortiz mit der giftigen orangefarbenen Blüte hinter dem Ohr oder das den Roman ein- und ausleitende Bild der zwischen den Mandelbäumen im Park explodierenden Augustsonne. Seine gezähmte Fabulierlust verdichtet die Sprache bis zur lakonischen Einfachheit, die großzügig indiskrete Details ausspart. Márquez genügen wenige Worte, um einen Kosmos anzudeuten, und er erzählt mit so selbstironischer Nonchalance, dass er sich sogar Exkursionen bis an die Grenze des Kitschs und der Sentimentalität erlauben kann. Dieses Alterswerk weiß zu begeistern.




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