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Friederike Mayröcker: cahier

Friederike Mayröcker: cahier. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014. 192 Seiten.
Rezension vom 20.10.2014 im literaturhaus.at
http://www.literaturhaus.at/index.php?id=10475


Das „Verschiedene ist das Konstante, nicht wahr“, hören wir die Erzählstimme aus dem „cahier“, Friederike Mayröckers jüngstem Buch, gleich auf den ersten Seiten sagen. Nichts existiert für uns ohne Differenz, klingt darin das Echo von Mayröckers Schriftheiligem Jacques Derrida nach; er wird im „cahier“ kurz und vertraut „JD“ genannt. „Différance“ nennt der Poststrukturalist die permanente Verschiebung von Bedeutungen beim Lesen und Schreiben. „Leben = Schreiben“, diese Gleichung gilt für den französischen Philosophen wie für die österreichische Autorin als unhintergehbar.

Mit dem ersten Schreibheft beginnt für fast alle Kinder das Lesen und Schreiben. „cahier“ nennt Friederike Mayröcker ihr aktuelles Buch. Es ist ihr persönliches Schreibheft. Die im Dezember dieses Jahres neunzigjährige Autorin hat ihr „cahier“ als zweiten Teil einer Triologie geplant. Tagesgenau datiert führt sie hier ihr Lebensprotokoll weiter, das sie mit den „études“ begonnen hat. Mayröcker knüpft im „cahier“ offensichtlich  ohne Unterbrechung an die Tagebucheinträge der „études“ an. Und demonstriert damit eine Kontinuität, die vom eigenen Ende ausdrücklich nichts wissen will. Was das Sterben angehe, damit habe sie nichts zu tun, propagiert die Erzählerin des „cahier“ einmal mehr ihre persönliche Revolte gegen die Zeit und den Tod.

Im Gegensatz zum vergleichsweise lyrischen Ton ihrer Francis Ponge nachempfundenen „proème“ der „études“ sind im „cahier“ die Sinneinheiten noch kürzer und elliptischer geworden. Oft gruppieren sich nur ein bis drei Wörter zu einem fragmentarischen Bedeutungsfeld. Gleichzeitig verflüssigt sich das Geschriebene, wird zu einer Art trüben Sprach-Ursuppe mit Schwebstoffen aus mehrdeutig flirrenden Wortfeldern und abgerissenen, flimmernden Satzbruchstücken. Amöben gleich folgen die scheinbar autonomen Satzfetzchen ihrer undurchschaubar intuitiven, nur der Schönheit der Sprachmusik gehorchenden Dynamik. Wie organische Verbindungen verknüpfen und lösen sie sich, bilden Ableger, mutieren und permutieren nach ihrer eigenen surrealen Zufalls-Choreographie jenseits sprachlicher Systematik. Wie lebendige Ur-Teilchen vervielfältigen sie sich dabei unablässig und schwemmen das Geschriebene gleichsam auf. Die Einzeltexte im „cahier“ wachsen über das mit meist knapp einer Seite noch überschaubare Volumen der „études“-„proèmes“ unmäßig hinaus. Insgesamt entsteht der Eindruck eines unkontrolliert wuchernden, quasi organischen Schrift-Körpers.

„Hatte vergessen, dir zu sagen, dasz meine Schriften immer nur das Idol des ‚Ästchens‘ vor Augen hatten, fieberhaft verstreute Gedanken, inmitten Meeres, von Blumen“, bemerkt die Erzählerin des „cahier“. Mayröcker verrät damit ihr eigenes literarisches Verfahren: Dekonstruktion durch sprachliche Osmose natürlicher Prozesse. Die Natur kennt keine absoluten Gegensätze, nur fließende Übergänge. Im natürlichen Kreislauf präsentieren sich Tag und Nacht, Wachsen und Vergehen, Aufgehen und Verblühen lediglich als Stationen im andauernden, nie endenden Bewegungsfluss. Im kontinuierlichen Wechsel der Tages- und Jahreszeiten bleibt das Verschiedene „naturgemäß“ das einzig Konstante.

Mayröckers literarisches „Kochrezept“, wie sie selbst es nennt, ist nicht neu. Aber die konsequente Nachhaltigkeit, mit der die Dichterin ihr ausgereiftes Verfahren literarischer Bionik im „cahier“ bis an die Grenze des Wahn-Sinns treibt, ist wieder einmal atemberaubend. Mit ihren intuitiven Wortwucherungen erzeugt Mayröcker aus einer Unsumme bereits bekannter Versatzstücke ein derart wild verzweigtes Sprachwurzelgeflecht, dass selbst Kenner die Orientierung verlieren können. Mayröcker dreht in ihrem „cahier“ die Schraube ihres literarischen Verfahrens noch um eine Drehung weiter. Bis an jene Grenze, wo Sprachverlust und Spracherwerb, seniles Lallen und kindliches Stammeln, Ende und Anfang zusammenfallen.

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