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Das persönliche Endspiel

Friederike Mayröcker: Und ich schüttelte einen Liebling. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2005. 238 Seiten.

Rheinischer Merkur – Nr. 47,  24.11.2005, Seite 21

 

LEBENSBILD Friederike Mayröcker sagt viel über ihren Gefährten Ernst Jandl. Und noch mehr über sich selbst

 

Ein Erinnerungsbuch an Ernst Jandl soll „Und ich schüttelte einen Liebling“ sein. Tatsächlich ist der Wiener Lyriker und langjährige Lebensgefährte Friederike Mayröckers unter dem Namen EJ omnipräsent. Aus dem Prosastück wurde dennoch eher eine Beschreibung der Mayröcker selbst. Ganz wie im Fall der darin häufig erwähnten fiktiven Autobiografie Gertrude Steins über ihre Freundin Alice B. Toklas, entsteht eine Lebens-Beschreibung im buchstäblichsten Sinn: in der unablässigen unmittelbaren Verschriftlichung ihrer alltäglichen Verrichtungen und unbedeutendsten Handgriffe auf Notizblättern. Und umgekehrt: in der Demonstration des Schreibens als existenznotwendigem Lebensmittel.

 

Angesichts des Todes Jandls und des nahen eigenen Sterbens wird die Feder zur Faust und der Textraum zur „Überlebensklausur“. Alles, was geschieht, ereignet sich nur noch in und durch die Sprache, genauer die Schrift. Mit der zurückweichenden äußeren Realität und abnehmenden menschlichen Kontakten geht der Dichterin auch das Sprechen verloren. Es „ist tatsächlich so, dasz ich kaum mehr eine Sprache habe zu anderen Menschen, nur noch diese innere Schreib Sprache . . ., habe fast nur noch die eine Wahrheit: zu mir selber zu sprechen.“ Nichts ist außerhalb des Textes, der Schrift, der Erinnerung, des Gedächtnisses, der Fiktion. Allein dort ist Existenz möglich, ohne Schreiben gibt es kein Wirkliches, nur die Schrift rettet vor der Leere: das „Leben ist der Parasit Sprache“. Der Dichter wird zur papiernen Person. Und so verwundert Mayröckers ursprünglicher Wunschtitel „Narration“ nicht. In ihrer Prosa manifestiert sie, ganz in strukturalistischer Tradition, das Roland Barthesche Diktum vom „Denken des Körpers im Zustand der Sprache“.

 

Im Schreibprozess verschmelzen Schriftsteller und Geschriebenes zum Schrift-Körper. Einer Textur, in der Bruchstücke von Träumen und Erinnerungen, wichtige Tagesereignisse und alltägliche Nebensächlichkeiten, fiktive Begegnungen und reale Kontakte gleichwertig nebeneinander stehen. Im postmodernen Bewusstsein, dass Schreiben nur ein Akt des Zitierens, des Wiederholens der einen Sache ist, die schon andere zuvor wiederholt haben, verwebt Mayröcker im Schreib-Teppich auch systematisch Lektüre-Exzerpte. So entsteht ein fortwährend mutierendes Selbstgespräch. Ein innerer Monolog aus endlosen Reihungen und Wiederholungen, immer wiederkehrende Elemente, verknüpft durch beschwörende Selbstbestätigungsformeln wie „denke ich“, „sage ich“, „nämlich“, „nicht wahr“, „usw.“, „etc“. Das Bruchstückhafte und Fragmentarische ist Bestandteil dieses Prozesses. Denn, so Roland Barthes, die „einzig mögliche Subversion auf dem Gebiet der Sprache besteht darin, die Dinge zu verschieben“.

 

In der Sprache als dialektischem Ort, wo die Dinge und die eigene Subjektivität sich bilden und auflösen, werden Gegensätze in der kontinuierlichen Bewegung verknüpft. Dieses Verschmelzen bewirkt, so Derrida, „ein sicheres Erzeugen von Unsicherheit“. Die Grenzen zwischen Profanem und Existenziellem, Körper und Geist, Vergangenheit und Gegenwart, innerer und äußerer Wahrnehmung und sogar zwischen Toten und Lebenden verschwimmen. Ein von Kirchenglocken übertöntes Telefonat der jugendlichen Friederike mit der längst verstorbenen Mutter ist im Bewusstseinsstrom genauso präsent wie der sanft wehende Sommerwind. Ein Phänomen, das auch die Ähnlichkeit der wichtigsten Bezugspersonen Gertrude Stein und Mayröckers Ärztin erklärt. Denn die entscheidenden Orientierungspunkte, egal ob körperlich oder geistig, gehen ineinander über.

 

So ist auch die große emotionale Bewegung bei kleinsten Sekundärtragödien zu verstehen. Schon ein hinkender Hase kann Tränen auslösen. Oder die Tatsache, dass sie sich nurmehr an die ersten drei Zahlen von Jandls Telefonnummer erinnert.

 

Ihre Technik beschreibt Mayröcker – in Anlehnung an Marcel Prousts Arbeitsmetapher, er schaffe sein Werk wie eine Schneiderin ihr Kleid – mit „Schneiderei Moden“. Sie schreibe, wie sie lebe: „immer gleich und doch ganz verschieden, nicht wahr . . ., also bröckchenweise und bruchstückweise und herzhermetisch, und dann mein Versuch, die Teilchen aneinander zu schließen, und ich mache jetzt figurale Kunst, sage ich.“

 

Das Kontinuierliche im Fragmentarischen wird durch den Rhythmus des Körpers diktiert. Die Monotonie des Selbstgesprächs, das Hin- und Herlaufen in der Wohnung und das Zittern der tippenden Finger. In der Hand ist das Körperliche des Schreibenden am stärksten präsent. Mayröcker forciert ein radikal authentisches sprach-existenzielles Verfahren. Ergebnis ist ein „Nicht-Stil“ jenseits der Formkunst. Eine „Art literarischer Selbstentblöszung, nicht wahr, also das Kritzeln/Beschmutzen: das Kritzeln auf meine nackten Oberschenkel oder ins Handinnere schreiben“.

 

Mayröckers Prosatext ist die schonungslose Preisgabe ihrer höchst intimen Seelentextur. Eine kompromisslose Körper-Prosa zwischen „Schulterblättern geschrieben“. Ihr ganz persönliches Endspiel, das letztendlich „herzhermetisch“ bleibt. Indem Mayröcker die abnehmenden Konstanten spiralförmig um die drohende Stille kreisen lässt, nähert sie sich dem „Zentrum des Schreibens und Schreiens“. Einem von Magie-Partikelchen leuchtenden poetischen Leerlauf, der den endgültigen Stillstand ankündigt. „Und ich schüttelte einen Liebling“ ist ein literarisches Gebet, ein narrativer Rosenkranz, ein Sich-in-den-Tod-Hineinsprechen, „man kann es auch das Gottessen nennen“. Gerichtet an und geschrieben für Ernst Jandl, für den sie „das Letzte ausspiele, das ich zur Verfügung habe, das Allerletzte, nicht wahr“.

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