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Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard - Eine Biografie.

Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Residenz Verlag 2015. 454 Seiten.

Sendung vom 07.02.2016 im Deutschlandfunk, Büchermarkt, Buch der Woche
http://www.deutschlandfunk.de/thomas-bernhard-biografie-literatur-als-experimentierfeld.700.de.html?dram:article_id=344835

Beitrag hören (Text gesprochen von Kerstin Fischer, Zitate gesprochen von Bernhard Bauer und Gerd Daaßen)

 

Wer nichts ist, kann alles aus sich machen, heißt eine Antwort der Kunst und Philosophie auf das Verschwinden des Subjekts. „Wir müssen uns selbst als Kunstwerk schaffen“, folgert der französische Poststrukturalist Michel Foucault. Dass ausgerechnet die künstlerische Biografie Thomas Bernhards in diesem Sinne als Beispiel gelungener Lebenskunst gelesen werden kann, mag erstaunen. Wie Thomas Bernhard sich selbst als Gesamtkunstwerk inszeniert, das zeigt Manfred Mittermayers neue, umfangreiche Biografie aus dem österreichischen Residenz Verlag.

 

Jeder Tag war inszeniert«, ist ein erhellendes Gespräch mit Bernhards Halbbruder Peter Fabjan (2011) überschrieben; er habe ununterbrochen gespielt«, erinnert sich der Lyriker Michael Guttenbrunner, mit dem den Autor eine jahrelange Bekanntschaft verband. Auch und gerade Bernhards Interviews sind nicht so sehr Bruchstücke einer großen Konfession, als vielmehr einer großen Inszenierung. Raimund Fellinger, der das Werk des Autors im Suhrkamp Verlag seit 1980 als Lektor betreute, hat dafür die passende Formel gefunden: »Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard.

 

Darauf weist Manfred Mittermayer gleich im Vorwort seiner neuen Thomas-Bernhard-Biografie hin. Sie ist das Ergebnis jahrelanger biografischer Forschungsarbeit. 2006 erschien in der Reihe BasisBiographien im Suhrkamp Verlag seine erste kürzere Darstellung von Leben und Werk. Hier konnte Mittermayer bereits auf neue Erkenntnisse aus den erstmals seit 2001 der Forschung zugänglichen Nachlassmaterialien aus dem Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden zurückgreifen. Die aktuelle, mit 454 Seiten deutlich umfangreichere Veröffentlichung ist das Ergebnis seiner von 2005 bis 2012 dauernden Forschungstätigkeit  am „Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biographie“. Ergänzend lässt Mittermayer hier wertvolle Ergebnisse aus seiner Mitarbeit an der 22 Bände umfassenden Werkausgabe im Suhrkamp Verlag einfließen. Mittermayer stützt sich in seiner chronologisch orientierten erzählenden Biografie auf maßgebliche Vorgänger-Biografien von Hans Höller, Joachim Hoell, Gitta Honegger und Louis Huguet. Außerdem lässt er Zeitzeugen zu Wort kommen. Im Gegenzug stellt er ihnen Bernhards Selbstauskünfte  aus Interviews und Filmen zur Seite. Mittermayer wirft ausführliche Blicke auf Bernhards Werk und die Reaktionen der Kritik. Der Biograf bezieht sich in seiner Darstellung von Bernhards Leben auch auf die fünf Bände von Bernhards Autobiografie. Er tue das, so Mittermayer, mit aller gebotenen Vorsicht gegenüber der fiktiven Selbstdarstellung, auf deren Doppelbödigkeit der Autor selbst in seiner autobiografischen Erzählung „Der Keller“ hinweist:

 

Ich darf nicht leugnen, dass ich auch immer zwei Existenzen geführt habe, eine, die der Wahrheit am nächsten kommt und die als Wirklichkeit zu bezeichnen ich tatsächlich ein Recht habe, und eine gespielte, beide zusammen haben mit der Zeit eine mich am Leben haltende Existenz ergeben, wechselweise ist einmal die eine, einmal die andere beherrschend, aber ich existiere wohlgemerkt beide.

 

Tatsache ist: Thomas Bernhard kommt am 9. Februar 1931 als uneheliches Kind von Herta Bernhard und dem Bauernsohn Alois Zuckerstätter in einer Entbindungsanstalt für ledige Mütter im holländischen Heerlen zur Welt. Einige Monate später kehren Mutter und Sohn in die österreichische Heimat zurück, wo sie bei ihren Eltern unterkommen. Thomas Großvater, der Heimat-Dichter Johannes Freumbichler, bemüht sich vergeblich um literarische Anerkennung. Der Familien-Despot überlässt die Sorge für den Lebensunterhalt seiner Frau Anna Bernhard und ihrer gemeinsamen Tochter Herta, die als Haushälterinnen und Kinderpflegerinnen auf den Höfen bei Seekirchen am Wallersee arbeiten. Thomas ist erst kurz in der Schule, als seine Mutter den Friseur Emil Fabjan heiratet und sie nach Traunstein ziehen. Der Grundschüler fühlt sich dort fremd und wird zum Bettnässer und chronischen Schulversager. Selbstbestätigung findet er vor allem in der engen Beziehung zu seinem Großvater Johannes Freumbichler. Mittermayer konstatiert:

 

Wie kein anderes inhaltliches Element zieht sich die Auseinandersetzung mit dem Großvater Johannes Freumbichler durch Bernhards Werk – in aller Faszination für einen unbeirrbaren Außenseiter, aber auch in zunehmender Erkenntnis der verhängnisvollen Folgen eines solchen Lebensmodells. Das alles sei »in den Büchern« wiederzufinden, »diese Figuren, Männerfiguren, das ist immer wieder mein Großvater, mütterlicherseits«, vereinfacht Bernhard im Filmmonolog „Drei Tage“ das Konstruktionsprinzip seiner Protagonisten (…) – und gibt dennoch einen entscheidenden Aspekt seines Schreibens preis. (…) Der Enkel löst sich – nicht zuletzt durch den Tod des Großvaters – aus dieser familiären Zwangsgemeinschaft und geht, sich gleichwohl lebenslang daran abarbeitend, beharrlich »in die entgegengesetzte Richtung« (…).

 

Ausgerechnet der Großvater ist es, auf dessen Wunsch Thomas Bernhard 1944 nach Salzburg auf eine Internatsschule geschickt wird. Zum Schrecken des streng nationalsozialistisch geführten Heims kommt die Angst vor Bombenangriffen. Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Disziplinierungsterror der Schule und der Gewalt des Krieges verschränken sich zum doppelten Trauma. Bernhard verbindet es lebenslang mit einem Ort: der Stadt Salzburg. Auch nach Kriegsende herrscht im Unterricht wie im jetzt katholischen Heim der gleiche Geist wie zuvor. 1947 bricht er die Schule ab und beginnt eine Kaufmannslehre – nicht zufällig vor den Toren der Stadt.


Die anderen Menschen fand ich in der entgegengesetzten Richtung, indem ich nicht mehr in das gehasste Gymnasium, sondern in die mich rettende Lehre ging, (…) nicht mehr mit dem Sohn des Regierungsrats in die Mitte der Stadt (…), sondern mit dem Schlossergesellen aus dem Nachbarhaus an ihren Rand (…) in die Hohe Schule der Außenseiter (…) in der Scherzhauserfeldsiedlung, in dem absoluten Schreckensviertel der Stadt (…) und im Keller als Lebensmittelgeschäft des Karl Podlaha (…). (…) ich ging meinen Weg, (…) während alles in der anderen Richtung niemals das Meinige gewesen war (…), ich war auf diesen Weg gezwungen worden von meinen Erziehern, von meinen Verwaltern.

 

So stilisiert der Dichter in „Der Keller. Eine Entziehung“ im Nachhinein das eigene Versagen als persönlichen  Triumph. Manfred Mittermayer dagegen weiß: Der Ziehvater hat den Jungen aufgrund seiner schlechten Leistungen zur Lehre gedrängt. Von Bernhard wird der erzwungene Schulabbruch als eigenständiger Entschluss zur Loslösung von allen „sogenannten“ Erziehern umgedeutet. Es ist der Beginn eines für Bernhards Literatur typischen Abgrenzungs- und Rettungsspiels, wie Mittermayer es nennt. Der Dichter wird sie im Laufe seines Lebens zur persönlichen Überlebenskunst perfektionieren.

Der Lehrling zieht sich eine nasse Rippenfellentzündung und eine Lungenentzündung zu.  Er wird im Januar 1949 in das gleiche Krankenhaus eingeliefert wie kurz zuvor sein Großvater. Bernhards Erkrankung ist lebensgefährlich. Die Schwestern schieben ihn ins Sterbezimmer. Er erhält die Letzte Ölung.

 

Ich hatte das Zeremoniell kaum wahrgenommen. (…) Ich wollte leben, alles andere bedeutete nichts. Leben, und zwar mein Leben, wie und solange ich es will. (…) Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden. (…) Es war an mir, ob ich weiteratmete oder nicht. (…)  Ich bestimmte, welchen der beiden möglichen Wege ich zu gehen hatte. Der Weg in den Tod wäre leicht gewesen.

 

… betont der Dichter später in seiner autobiografischen Erzählung „Der Atem. Eine Entscheidung“. Indem der Schriftsteller die Entscheidung über Leben und Tod als Wahlakt seines freien Willens darstellt, spricht er sich selbst die göttliche Macht zu, dem Menschen Seele einzuhauchen. Ich-Werdung und Künstler-Werdung fallen in dem grandios inszenierten gottgleichen Schöpfungsakt des Künstlers aus dem Nichts in eins. Es ist die eigentliche Geburtsstunde Thomas Bernhard zum Lebenskünstler. Dass Bernhards Großvater ausgerechnet in den Tagen seine Seele aushaucht, in denen sein Enkel sich für das Weiteratmen entscheidet, hätte der Schriftsteller für seine Künstler-Genesis nicht besser erdichten können.

Die ernüchternde Realität ist: Thomas Bernhards Erkrankung folgt ein lebenslanges Lungenleiden mit wiederholten Aufenthalten in der Lungenheilanstalt Grafenhof bei St. Veit. Mittermayer berichtet:

 

In der »Volksheilstätte « sollen vor allem sozial schwache Tbc-Kranke die Chance erhalten, von der langwierigen Krankheit geheilt zu werden. 1949, als Thomas Bernhard erkrankt, sterben in Salzburg 34 Mensch an Lungentuberkulose und 161 an Lungenentzündung; pro Jahr kommen 100 bis 200 Neuerkrankungen hinzu.

 

Während seiner zweiten Kur in Grafenhof stirbt 1950 Bernhards Mutter zu Hause an Krebs. Der gerade einmal Neunzehnjährige hat in kurzer Zeit seine zwei wichtigsten Bezugspersonen verloren. Er selbst wäre beinahe gestorben. Im Moment tiefster Verlassenheit zieht es den Patienten immer wieder beinahe magisch in die Kapelle, um im Chor der krächzenden Lungenkranken absurderweise das Lob Gottes zu singen. Die eigene Stimme wird hier zum Instrument der Selbstvergewisserung, ja Selbstbehauptung. Im Gesang verbindet sich Sprache mit Musik zur vielleicht persönlichsten aller künstlerischen Ausdruckformen. Bernhard macht ihn zum Ausgangspunkt für sein musikalisches Existenzmodell. Es ist die Geburt des Lebens-Künstlers Thomas Bernhards aus dem Geiste der Musik. In den litaneiartigen Monologen und psalmartigen Gesängen seiner Texte erhebt er seine Stimme: gegen den schweigenden abwesenden Gott und seine stummen Toten.

Die zentrale Bedeutung der Musik für Thomas Bernhard betont Manfred Mittermayer von Beginn an. Und beruft sich dabei unter anderem auf Bernhards eigene Aussage in einem Interview:

 

Ich würde sagen, es ist eine Frage des Rhythmus und hat viel mit Musik zu tun. Ja, was ich schreibe, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, daß zuallererst die musikalische Komponente zählt und daß erst an zweiter Stelle das kommt, was ich erzähle.

 

Bernhard entlässt sich selbst als geheilt aus der Lungenheilstätte. So zumindest will es der Dichter im Rückblick in seiner Autobiografie sehen. In Grafenhof lernt Bernhard auch seinen vielleicht wichtigsten „Lebensmenschen“ kennen: die 37 Jahre ältere Hedwig Stavianicek. Die Beziehung zu Bernhards zweifellos wichtigster außerfamiliärer Bezugsperson kann Manfred Mittermayer nur umkreisen. Der Briefwechsel Stavianicek/Bernhard ist gesperrt. Bernhard arbeitet kurze Zeit als Gerichtsreporter, bevor er ein Gesangs-, Regie- und Schauspielstudent am Mozarteum beginnt. Parallel versucht er sich als Dichter, vor allem religiös geprägter Lyrik wie „In hora mortis“. 1963 gelingt Thomas Bernhard mit seinem Debüt-Roman „Frost“ der literarische Durchbruch. 1965 erhält der junge Autor dafür den Bremer Literaturpreis. Mittermayer betreibt von nun an eine fast ausnahmslos chronologische Werkgeschichte mit Inhaltsangaben und Zitaten, Deutungsangeboten und Kritikerstimmen. Bernhard veröffentlicht in rascher Folge Prosatexte, deren Titel wie Hammerschläge klingen: „Verstörung“, „Ungenach“, „Das Kalkwerk“, „Beton“, „Der Untergeher“. Seit 1970 kommen Theaterstücke hinzu. In all seinen Texten arbeitet Bernhard geschickt mit Versatzstücken aus seiner Biografie. Wie eng die Verschmelzung von Kunsttext und Lebenstext ist, kann Manfred Mittermayer in vielen Belegen nachweisen. Neu erscheint der Hinweis auf den Ursprung einer Passage in „Der Ignorant und der Wahnsinnige“.

 

Der Monolog des wahnsinnigen Arztes geht auf eine Verfahrensweise zurück, die in Bernhards Oeuvre einzigartig ist. Der Autor hat nämlich aus einem Pathologieskriptum der Universität Wien mit dem Titel „Pathologie– Obduktion“ einen beträchtlichen Teil für sein Stück übernommen. Das Skriptum (…) geht nach Auskunft von Peter Fabjan auf dessen eigenes Medizinstudium zurück; sein Halbbruder habe es damals von ihm erbeten, nachdem er mit ihm zusammen eine Pathologie-Vorlesung besucht hatte. Der Autor stellt in seinem Stück die Abfolge des Skriptums lediglich so um, dass die Schilderungen des Doktors vom Kopf bis zu den Genitalien verlaufen. Und er arrangiert den Text wie ein Opernlibretto, dessen Elemente auch gelegentlich wiederholt oder durch zwei Sänger gleichzeitig vorgetragen werden.

 

1967 erhält Thomas Bernhard den Kleinen Österreichischen Staatspreis, ein Jahr später den Anton-Wildgans-Preis, 1970 den Georg-Büchner-Preis. Seine ab 1975 veröffentlichte fiktive Autobiografie ermöglicht es ihm, auch die Zeit vor seinem literarischen Durchbruch als Teil der biografischen Künstler-Legende zu stilisieren. Doch Bernhard dreht die artistische Schraube noch ein Stück weiter. Er setzt in der Literatur nicht nur rückwirkend sein Leben in Szene, sondern schreibt es sich damit regelrecht vor – und zwar im doppelten Wortsinn. In kaum einem Stück sei das besser zu beobachten als im „Weltverbesserer“, so Manfred Mittermayer:

 

Mitten in der Phase seiner autobiografischen Selbstrecherche, wie sie in „Der Atem“ und „Die Kälte“ ihren Niederschlag findet, zitiert der Autor in seiner Komödie plötzlich ein zentrales Element der Lehre seines Großvaters (…): »Die Welt ist eine Kloake / aus welcher es einem entgegenstinkt / Diese Kloake gehört ausgeräumt«. Allerdings fügt er hinzu: Dann sei sie völlig leer, und es bleibe uns »nichts anderes übrig / als daß wir uns kopfüber hineinstürzen«. Die literarische Zuschreibung dieser nahezu wörtlich wiederholten Aussage an den Großvater vollzieht sich kurze Zeit später in Bernhards autobiografischem Text „Die Kälte“ (…): Die Welt habe genauso ausgesehen, wie sie ihm sein Großvater beschrieben habe. Sie sei »zum größten Teil ekelerregend, in eine Kloake schauen wir hinein, wenn wir in sie hineinschauen«, erinnert sich der Erzähler des Bandes. » (…) Und wer lange hineinschaut, Jahrzehnte hineinschaut, ermüdet und stirbt und/oder stürzt sich kopfüber hinein« (…). Es scheint tatsächlich, als hätte der Autor zunächst in der literarischen Fiktion durchgespielt, was er hinterher im Medium der Autobiografie als Aussage eines realen Menschen (…) niederschreibt (…).

 

Literatur wird so zum Experimentierfeld für das Leben und zur Entwicklungsplattform gelungener künstlerischer Lebensformen, lautet Manfred Mittermayers These. In der Literatur werden Erzähltechniken auf ihre Tragfähigkeit als Überlebenstechniken hin geprüft. Der künstlerische Entwicklungsprozess bleibt „naturgemäß“ lebenslang unabschließbar. Bis zuletzt hört der schwer herz- und lungenkranke Thomas Bernhard nicht auf zu schreiben. Noch wenige Monate vor seinem Tod feiert er mit dem Skandal-Stück „Heldenplatz“ seinen letzten großen Erfolg. Am 23. Februar 1989 stirbt Thomas Bernhard, wenige Stunden nach dem 40. Todestag seines Großvaters, in Anwesenheit des Bruders in seiner Wohnung in Gmunden.

 

Hätte ich, was alles zusammen heute meine Existenz ist, nicht tatsächlich durchgemacht, ich hätte es wahrscheinlich für mich erfunden und wäre zu demselben Ergebnis gekommen.

 

… schmunzelt Thomas Bernhard in „Der Keller“ über sein eigenes Lebens-Kunststück, mit dem er in unnachahmlichem Stil das vom Leben Erzählte zu Erfundenem macht und gleichzeitig das Erfundene in Leben umschlagen lässt. Und umgekehrt, um mit einer Formel Thomas Bernhards zu schließen.

Mittermayers in ihrer Ausführlichkeit und Faktenfülle wohl einzigartige neue Thomas-Bernhard-Biografie ist ein groß angelegtes Mosaik aus Lebensdaten und fiktiven Erinnerungen, Werkanalyse und Kritikerstimmen, Selbstaussagen und Berichten von Zeitzeugen. Mittermayer selbst formuliert seine Herangehensweise als „polyphone biografische Erzählung“, die – auch und gerade in ihrer Widersprüchlichkeit – Bernhards komplexer Persönlichkeit entspreche. Mit der gründlichen Auswertung des Nachlassmaterials setzt Mittermayer zweifellos Maßstäbe. Für Bernhard-Neulinge ist Mittermayers Biografie allerdings weniger geeignet. Die kompakte biografische Erzählung in langen, chronologisch sich überlappenden Kapiteln bietet keinen schnellen Einstieg und Überblick über Bernhards Leben und Werk. Mittermayers wissenschaftlich fundierte Biografie ist allerdings auch kein Schmöker für Bernhard-Fans. Bernhard-Experten werden sicher einige unbekannte, gelegentlich auch verblüffende Erkenntnisse finden. Mit bahnbrechenden neuen Entdeckungen kann Mittermayer allerdings nicht aufwarten. Das liegt vor allem daran, dass viele Nachlass-Dokumente nach wie vor unter Verschluss bleiben. Thomas Bernhard selbst hat es in seinem Testament so bestimmt.

 

 

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