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Gesteigerte Sinnlichkeit

Daido Moriyama: Shinjuku 19XX-20XX. Verlag Hatje Cantz 2006.
Sendung vom 01.03.2006 im Deutschlandfunk, Moderation Hubert Winkels
http://www.deutschlandfunk.de/gesteigerte-sinnlichkeit.700.de.html?dram:article_id=82624
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Daido Moriyama gehört zu den einflussreichsten Repräsentanten der zeitgenössischen japanischen Fotografie. Treffend als "Hunter of Light" charakterisiert, besticht Moriyama in seinen Fotografien durch Hell-Dunkel-Kontraste und die diffuse Abstufung von Grautönen. Das Buch "Shinjuku" präsentiert bislang unveröffentlichte Fotografien aus dem Tokioter Viertel, dessen labyrinthische Anordnung und dunkle Zonen Moriyama seit jeher in den Bann schlagen.


Es riecht nach verbrannter Soja-Sauce und Zigaretten. Alle Straßen Tokios führen hierhin. In der Mitte der Bahnhof mit dem größten Passagieraufkommen der Welt. Millionen von Menschen werden hier täglich in das "Herz Tokios" gepumpt. Shinjuku. Shinjuku ist nicht nur das verkehrstechnische Epizentrum Tokios. In dem bedeutendsten Verwaltungszentrum des Landes mit dem größten Wolkenkratzerviertel und gigantischen Kaufhäusern befindet sich eines der ältesten Vergnügungsviertel und der bekannteste Treffpunkt für Schwule. Ein Schmelztiegel. Nirgends stoßen die Gegensätze östlicher Tradition und der heftige und schnelle westliche Konsum so hart aufeinander wie hier.

Kaum einer hat Shinjukus bittersüße Mischung aus Erotik, Abfall und Kommerz so eingefangen wie Daido Moriyama. Mit seinen expressiven Bildern wurde der bei Osaka geborene Moriyama zu einem der wichtigsten japanischen Fotografen der Nachkriegszeit. Shinjuku ist auch sein neu herausgekommener Fotoband mit bisher unveröffentlichten Bildern des Großstadtviertels gewidmet. Wild, verschwommen und unscharf sind Moriyamas Schwarz-Weiß-Fotografien von Straßen, Gesichtern, Hinterhöfen, Nachtclubs, Fast-Food-Ständen und Supermärkten, körnig und voll harter Kontraste. Die Menschen wirken verloren in seinen rohen und düsteren Großstadtszenen. Fotos, die in ihrer Spontaneität und Beiläufigkeit der Bildauswahl an Polaroids denken lassen, mit denen der Fotograf auch seit den 90er Jahren experimentiert.

Wie eilige Schnappschüsse erscheinen die Bilder. Bewusst grobkörnig, unscharf, verkantet und angeschnitten präsentieren sich die im Labor intensiv nachbearbeiteten Fotos. Die Motive: der unförmig scharfe Schattenriss eines Menschen auf hellen Fliesen; Frauenbeine unter kurzem Rock auf hohen Schuhen, fotografiert aus Hüfthöhe; der von Regentropfen trübe Blick aus dem Autofenster auf die Leuchtreklame der Großstadt; ein Lichtriss der schmale Himmelsstreifen zwischen zwei Hochhäusern; der sinnlich geöffnete Mund einer Frau auf einem Schaufensterplakat, in dem sich Leuchtwerbung spiegelt. Flüchtig und beiläufig scheinen die Fotos, beinahe beliebig die Motive und ohne erkennbare Bildkomposition. Tatsächlich hat Moriyama viele der Aufnahmen gemacht, ohne den Sucher zu benutzen. Oft aus der Bewegung fotografiert, aus der Position eines streunenden Hundes.

Die Perspektive des "Stray Dog", so auch der Titel seiner wohl bekanntesten Fotografie, ist für Moriyama Programm. Programmatisch auch das Foto des Bandes, in dem Moriyama in einen Spiegel hinein fotografiert. Das Bild zeigt eine reizlose menschenleere Seitenstraße mit einem Knäuel von Oberleitungen - strähnige schwarze Haare vor grauen Fassaden. Im Vordergrund, Gesicht und Körper Moriyamas sind nur noch im Bildanschnitt zu sehen, ragt sein Arm mit Hand und Kamera ins Foto. Eine Position, von der aus der Fotograf unmöglich in den Sucher blicken kann. Denn, so Moriyama, sobald man mit dem Sucher der Kamera einen Ausschnitt auswählt, schleicht sich eine bewusste Bedeutung ein. Mit der "No-Finder-Technik" versucht er diese vorgefertigte Wahrnehmung zu unterlaufen. Die vor dem Bewusstsein ansetzenden Eindrücke interessieren ihn. "Anstatt irgendeine theoretische Vorgangsweise anzuwenden," so Moriyama in einem Interview, "reagiere ich total körperlich. Zum Beispiel drehe ich mich nach rechts und fotografiere ein Poster, drehe mich um und fotografiere die Straße. Manchmal richte ich auch die Kamera auf mich selbst. Ich treffe dabei keine Unterscheidungen, trotzdem gibt es in meinem Inneren keinen Widerspruch."

Moriyama will mit seinen Fotos zwischen Körper und Fotografie vermitteln. Dabei geht es ihm um die Befreiung der individuellen Wahrnehmung - ein künstlerisches Konzept, das an die 60er-Jahre-Literatur der Beat Generation anknüpft. Die Parallele ist kein Zufall. Die Lektüre von Jack Kerouacs Beatnik-Klassiker "On the Road" hat Moriyamas Fotografie stark beeinflusst. Ähnlich der "found poems" zeigen seine Snap-Shots zufällig vorgefundene Alltäglichkeit. Jene scheinbar nebensächlichen Augenblicke, wo ein flüchtiger Eindruck, so Beat-Poet Rolf Dieter Brinkmann, "zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht." Gewöhnliche Dinge werden zum Objekt der Kunst, gerade weil sie nichts bedeuten. Aus diesem Grund sind alle Themen und Motive in Moriyamas Bildern gleichwertig. Damit verliert auch der Titel seinen Sinn. Ununterscheidbar sind daher die Fotos in dem Band mit "Shinjuku" und jeweiligem Enstehungszeitraum betitelt. Gleichwertigkeit ist ein Schlüsselwort zum Verständnis von Moriyamas Werk.

Er versteht seine Kamera als "Kopierapparat der Realität", als "optisches Gerät zum Erzeugen von Gleichwertigem". Dabei macht es keinen wesensmäßigen Unterschied, ob das Motiv einer realen Situation oder einem Bild entstammt. Fotos von Werbeplakaten und Fernsehbildern stehen gleichberechtigt neben Bildern von realen Objekten. Es geht darum, in alltäglichen Motiven Momente vor der bewussten Wahrnehmung zu fixieren. Das Ziel: Eine den Körper unmittelbar treffende sinnlich gesteigerte Intensität. Eine gesteigerte Sinnlichkeit, in der für Moriyama Leben und Arbeit zusammenfällt. "Ich und meine Photos", so Moriyama "stimmen exakt überein." Die Fotos und seine Biografie zeigen das; in einer künstlerischen Radikalität und existenziellen Konsequenz, die den Betrachter treffen. Direkt, wild und unmittelbar.

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