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Roman über den Vater als Hommage an die Frauen

 

Kenzaburō Ōe: Der nasse Tod. Roman über meinen Vater. S. Fischer 2018. 432 Seiten.

Sendung vom 12.11.2018 im Deutschlandfunk

www.deutschlandfunk.de/kenzaburo-oe-der-nasse-tod-roman-ueber-meinen-vater-caveman.700.de.html

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Der japanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe zählt in seinem Heimatland zu den wichtigsten Schriftstellern seiner Generation. Der 1935 geborene Ōe wächst in einer großen Familie in einem Dorf auf der kleinen Insel Shikoku auf. Mit achtzehn Jahren geht Ōe zum Romanistik-Studium nach Tokio. Er schließt er mit einer Arbeit über Sartre ab. Noch als Student beginnt er zu schreiben. Bereits mit 23 Jahren erhält er für seine Erzählung "Der Fang" den bedeutenden Akutagawa-Preis. Es folgen zahlreiche weitere Auszeichungen. In seinen Essays, Geschichten und Romanen setzt er sich vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg, der Bombardierung Hiroshimas und der Nachkriegszeit in Japan auseinander. Ōes wohl bekanntestes Werk ist der 1964 erschienene Roman "Eine persönliche Erfahrung", in dem er von der Beziehung zu seinem Sohn, der 1963 mit einem Gehirndefekt zur Welt kam, erzählt. Jetzt ist sein letzter Roman „Der nasse Tod“ auf Deutsch erschienen.

 

Honmei „Chōkō“ heißt die Schokolade, die japanische Frauen den Männern zum Valentinstag schenken. Frauen hat der Schriftsteller Kogito Chōkō, Kenzaburō Ōes Alter Ego, auch den ersten Impuls zum Schreiben zu verdanken. Die Erzählungen der Mutter und Großmutter über die Legenden des Waldes werden zum Nukleus seiner Romane. Der Einfluss der Frauen setzt sich offenbar bis ins hohe Alter fort. Als der fast vergessene Autor Kogito Chōkō in Tōkyō bei seiner Haus-Runde einen Laternenmast übersieht, und – seinem Wahlspruch „Cogito ergo sum“ zum Trotz – für kurze Zeit sein Bewusstsein verliert, findet er sich auf dem Schoß einer jungen Frau wieder. Unaico, eine Schauspielerin des Caveman-Theaters, weiß offenbar mehr über Kogitos Pläne als er selbst.

 

Chōkō soll auf seine Heimatinsel Shikoku reisen, um dort von seiner Schwester Asa einen „roten Koffer“ mit der Hinterlassenschaft des Vaters in Empfang zu nehmen. Genau zehn Jahre nach dem Tod der Mutter. So hatte sie es bestimmt. Wieso ist der Vater 1945 am Abend der Kapitulation im Hochwasser ertrunken? War der Vater in einen Aufstand des Militärs verwickelt? Hätte der damals zehnjährige Kogii ihn noch retten können? Fragen, auf die sich der Schriftsteller nun endlich im Nachlass eine Antwort erhofft. Mit Hilfe des roten Koffers will er über den Vater ein Buch schreiben. „Der nasse Tod“ soll der Roman heißen; nach dem vierten Teil des T.S.-Eliot-Gedichts „Das öde Land“. Schon als junger Autor hat er einige Verse daraus zum Leitmotiv und Bauplan für seinen Lebens-Roman gewählt:

 

Ein Meeresstrom
Nahm flüsternd seine Knochen. Wie er stieg und sank,
Ging er durch die Lebensstufen, jung und alt,
In den Strudel ein.


Als Kogito Chōkō im Waldhaus von Shikoku ankommt, ist die Caveman-Theatertruppe bereits vor Ort. Während der Autor dort für den „Nassen-Tod-Roman“ recherchiert, wollen die Cavemen parallel dazu ein Bühnenstück entwickeln. Der Autor und die Theaterleute bilden rasch ein kreatives Arbeitskollektiv nach dem Vorbild Bertolt Brechts. Interviews mit Chōkō werden per Tonband mitgeschnitten, Buchpassagen rezitiert und diskutiert, Ortsbesichtigungen von Romanschauplätzen vorgenommen. Der Dialog über unterschiedliche Medien dient dem Verfremdungseffekt. Ergebnis ist eine soziale Skulptur, die parallel zur persönlichen Identität des Autors die nationale Identität der japanischen Gesellschaft reflektiert. Eine Gemeinschafts-Collage, die für Nicht-Japaner oft kaum zu verstehen ist.


Voller Spannung nimmt Chōkō von Asa den roten Koffer in Empfang. Seine ganze Hoffnung ruht auf einer Handvoll Briefe. Doch sämtliche Umschläge sind leer. Schwester Asa ist nicht überrascht. Hatte die Mutter die Briefe doch zuvor über die Jahre vernichtet. Was für ein Hohn! Chōkōs Lebensprojekt, der Roman über seinen Vater, ist damit gescheitert.

Er reist wieder nach Tōkyō. Dort versinkt der seitdem von Schwindelattacken geplagte Autor in eine tiefe Depression. Auch, weil der Streit mit seinem geistig behinderten Sohn sich nicht einrenken will. Akari hat seither aufgehört, Musik zu hören und zu komponieren. Als Chōkōs Frau Chikasi sich nun auch noch einer Krebsoperation unterziehen muss, folgt der hilflose Ehemann ihrem Wunsch: Für die Zeit ihres Krankenhausaufenthaltes zieht Kogito mit Akari noch einmal nach Shikoku ins Waldhaus zurück. Dort sieht der Autor sieht sich an seinem Tiefpunkt angelangt.


Ich war aus den Wäldern nach Tōkyō aufgebrochen, ich hatte studiert, Schließlich war ich zurückgekommen, auch wenn mir nicht klar war, welche Früchte all das gebracht hatte (...). Doch all das stellte sich nun als Illusion heraus. Tatsächlich war ich nie von hier weggegangen, ich lebte seit jeher in diesem Hier und Jetzt und zählte vierundsiebzig Jahre.

 

Währenddessen hat Unaico mit Asas Unterstützung und Caveman-Frau Ritchan im Waldhaus ein eigenes Theaterprojekt ins Leben gerufen. Unaico radikalisiert mit ihrem sogenannten „Tote-Hunde-Stück“ die Methode des Caveman-Theaters, einem Mix aus Stand-up-Comedy, Vortrag und Therapiesitzung über den „ewigen Geschlechterkrieg“. Unaicos neues Arena-Theater hebt die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum vollständig auf. Die Schauspieler zetteln eine Diskussion unter den Zuschauern an und provozieren eine Eskalation. Auf deren Höhepunkt sich die gegnerischen Parteien beschimpfen und gegenseitig mit Stoffhunden bewerfen. Als Unaico sich schließlich einen Klassiker der japanischen Moderne, Natsume Sōsekis Roman „Kokoro“, vornimmt, erntet sie großen Erfolg, aber auch die Kritik der Konservativen. Doch Unaico setzt ihr Theaterexperiment in die Realität fort. Sie heizt die Konfrontation mit den Rechten durch ihr nächstes Projekt bewusst noch weiter an. Ritchan macht sich Sorgen.

 

Von all dem abgesehen, geht es Unaico bei ihrem Theaterprojekt momentan darum, den Film Meisukes Mutter zieht in die Schlacht auf die Bühne zu bringen. (...) Unaico will das auf ihre Art in Szene setzen. Mit ihrer Art meine ich die Methode, mit der sie das Tote Hunde-Stück inszeniert hat. Sie will da wie bisher ganz egoistisch vorgehen. Das könnte zu einer Menge Ärger führen.


Das Drehbuch zum Film über den von Meisuke angeführten Bauernaufstand in der Umbruchszeit von der japanischen Feudalherrschaft zum Kaiserreich ist von Chōkō. Unaico bittet den Autor, das Textbuch zu „Meisukes Mutters Schlacht und Leid“ nach ihrer „Tote-Hunde-Stück-Methode“ umzuarbeiten. In den Mittelpunkt stellt sie die Vergewaltigung von Meisukes Mutter und den Aufstand der Frauen. Damit gerät nun auch Chōkō ins Kreuzfeuer der Rechten. Die Nationalisten versuchen die Aufführung mit aller Gewalt zu verhindern. Chōkōs verstorbener Freund Edward W. Said scheint Recht zu behalten:


Wahre Künstler sind im Alter keineswegs gereift oder versöhnt, sondern gehen umgekehrt in ihrem Spätwerk den Dingen erst auf den Grund. Manchmal werden sie sogar von Katastrophen heimgesucht.

 

Sogar Chōkōs Sohn wird bedroht. Doch die Eskalation nimmt ein unerwartetes Ende. Und Akari bekommt unter der Obhut der Theaterfrau Ritchan von der Gefahr gar nichts mit. Dank Ritchans Hilfe hat Akari wieder begonnen, Musik zu hören. Seine erste Komposition versetzt alle in Erstaunen. Akari nennt sie „Großes Wasser“; seine eigene musikalische Variation über den „Nassen Tod“, das Lebensthema seines Vaters. Was für eine Ironie! Dem geistig behinderten Sohn gelingt mit traumwandlerischer Leichtigkeit, woran der Vater als Schriftsteller sein Leben lang scheitert: die Versöhnung mit dem verlorenen Vater. Akaris Musik und Intuition ist der Literatur des berühmten Autors ganz offensichtlich überlegen.


Der doppelte Witz der Geschichte: Aus der intellektuellen und persönlichen Niederlage Kogito Chōkōs ist nun doch ein großes Alterswerk geworden. Kenzaburō Ōes eigenes nämlich. „Der nasse Tod“ ist das Selbstporträt eines alternden Autors, der sich dekonstruiert, um sich neu zu erfinden. Mit einer postmodernen Textcollage aus Selbstzitaten und unzähligen fremden Stimmen. Ein Parforce-Ritt quer durch das eigene Romanwerk, die Weltliteratur, die japanische Geschichte, durch Mythos, Religion und Politik. Ein überaus komplexes und nicht leicht zu konsumierendes Spätwerk von tiefer Symbolik und Selbstironie, das für Japan-fremde Leser oft kaum nachzuvollziehen ist.

 

Es ist Kenzaburō Ōes vielleicht letzter Roman, mit dem sich der Autor vor all jenen verneigt, denen er sein literarisches Werk zu verdanken hat: der Mutter, seiner Ehefrau und Tochter, alias Unaico, und nicht zuletzt seinem behinderten Sohn Hikari, nach dessen Geburt Kenzaburō Ōe mit dem Schreiben eigentlich erst begonnen hat. Der Autor zieht sich mit dem nur scheinbar gescheiterten Roman über seinen Vater als Hommage an die Frauen und den Sohn augenzwinkernd selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Keine Frage: Dieses Kunststück bleibt nur Meistern ihres Fachs vorbehalten. Der Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe gehört zweifellos dazu.

 

 

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