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Luigi Pirandello: Maestro Amor

Luigi Pirandello: Maestro Amor. Römische Novellen. Ausgewählt und aus dem Italienischen übersetzt von Martin Hallmannsecker. Mit einem Nachwort von Maike Albath. C.H. Beck 2016. 160 Seiten.

Sendung vom 30.05.2017 im Deutschlandfunk

Beitrag hören (Zitate gesprochen von Christof Wittelsbörger, DLF-Sprecherensemble)

 
Der italienische Schriftsteller Luigi Pirandello, 1867 in Sizilien geboren, 1936 in Rom gestorben, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern des 20. Jahrhunderts. Bekannt wurde er vor allem mit seinen Theaterstücken wie „Sechs Personen suchen einen Autor“ und „Heinrich IV“. Seine Romane wie „Mattia Pascal“ und die Novellen, insgesamt über 350 Kurzgeschichten, stehen in Italien noch heute auf fast jedem Lehrplan. 1934 erhielt Pirandello für sein literarisches Werk den Nobelpreis. Ambivalent wird Pirandellos Verhältnis zum Faschismus bewertet. Obwohl er Mussolini 1924 persönlich um die Aufnahme in die Partei bat, sind die Thesen seines literarischen Werks nur schwer mit dem faschistischen Weltbild in Einklang zu bringen. Auch die jetzt neu erschienenen Erzählungen „Maestro Amor. Römische Novellen.“ zeichnen das genaue Gegenteil des faschistischen Ideals: nämlich das Leben als „groteskes Maskenspiel“; Martin Hallmannsecker hat sie zusammengestellt und erstmals ins Deutsche übertragen.

 

Was bleibt übrig, wenn man auf einen Schlag nicht mehr der ist, der man bis dahin war? Nicht viel. Zumindest nicht von dem, was das Leben lebenswert macht. Findet Cristoforo Golisch, als er seinen Freund Beniamino Lenzi nach einem Schlaganfall zufällig auf der Straße trifft. Denn der hat, wie es ihm scheint, nicht nur seine frühere Identität, sondern auch seine Sprache und jeglichen gesunden Sinn für die Realität verloren. Für Golisch steht fest: Wenn ihm so etwas wiederfährt, bringt er sich um. Doch als ihn tatsächlich einen Monat später der Schlag trifft, kommt alles anders:

 

Er fühlte sich wie neugeboren. Wie ein Kind konnte er wieder über alles staunen und ebenso leicht wegen jeder Kleinigkeit in Tränen ausbrechen. Von jedem Gegenstand in seinem Zimmer ging für ihn ein sanftes, vertrauenerweckendes Trostgefühl aus, das er noch nie zuvor empfunden hatte (…)

 

Auch Golisch kann nur noch stammeln. Und zwar auf deutsch; seine italienische Muttersprache hat er komplett vergessen. Was ihn nicht im mindesten stört. Mit Beniamino verständigt er sich auch ohne Worte. Geht mit ihm zur Therapie oder zur Dirne Nadina, die den beiden mit liebevollem Mitleid begegnet. „Leicht berührt“ heißt die Geschichte von Luigi Pirandello. In der der Autor am Schicksal der vom Schlaganfall Gezeichneten das Drama des Menschen der Moderne als tragikomische Groteske darstellt. Denn wie grotesk ist die Situation eines neuzeitlichen Menschen, der mit dem Glauben an Gott auch sein Zutrauen in das Subjekt, seine eigene Wahrnehmung und Sprache verloren hat? Wie erbärmlich sind diese existenziell vom Schlag Getroffenen, die trotz des Endes aller Gewißheiten nicht aufhören können, weiter an sie zu glauben? Selbst den Schatten des „abwesenden Gottes“ werden sie nicht los; haben sie ihn doch selbst erdacht! Pirandello demonstriert in seiner philosophischen Fallstudie der beiden „vom Tod gezeichneten“ Männer die ganze Dramatik dieses existenziellen Dilemmas. Aber Pirandello ist nicht zuallererst Philosoph, sondern Dichter. Der Autor Pirandello bringt den epochalen Schlaganfall in eine literarische Form. Und inszeniert ihn als konkretes Einzelschicksal, das in seiner individuellen Tragik und Komik persönlich betroffen macht. Die Erzählung ist ein philosophisch-literarisches Fallbeispiel. Wie alle Geschichten Pirandellos, die Martin Hallmannsecker im Band „Maestro Amor“ als Sammlung „römischer Novellen“ zusammengestellt und erstmals ins Deutsche übersetzt hat. Und in denen es um die Fragen von Identität, Verständigung und Wirklichkeitserfahrung geht.


Wer nicht mit sich identisch ist, wird früher oder später eifersüchtig auf sich selbst. Diese steile These findet sich in Pirandellos römischer Novelle „Stefan Giogli eins und zwei“. Nach der Heirat passt sich Stefan Giogli so perfekt dem Idealbild an, das seine Braut von ihrem Bräutigam entwirft, bis er sich selbst als sein eigener Nebenbuhler sieht.

 

(…) wenn Lucietta ihn umarmte, umarmte sie nicht ihn, sondern jene hassenswerte Metapher seiner selbst, die sie sich geschaffen hatte.
Es war wahre Eifersucht (…). Er spürte, dass er die Kontrolle über sich selbst verlor; er spürte, dass dieses Gespenst seiner selbst, das von seiner Frau geliebt wurde, von seinem Körper Besitz ergriff, um ganz für sich alleine in den Genuss ihrer Liebe kommen zu können.

 

Pirandello nimmt die verlorene Einheit des Subjekts beim Wort. Er demonstriert an Stefan Giogli die bis zur letzten Konsequenz durchdachte Vielfalt konkurrierender Identitäten innerhalb einer Person. Nur was, wenn auch die Braut sich nach dem Idealbild ihres Ehemannes ausgerichtet hat? Und beide einen jeweils anderen lieben; also sich selbst und den anderen täuschen? In der dramatischen Zuspitzung von Pirandellos Pointe wird die abstrakte Idee von der Disparatheit des Subjekts und der Unmöglichkeit gegenseitigerer Verständigung zum nicht auflösbaren Gedankenspiel. Das Leben selbst macht daraus eine Groteske. Der Autor zeichnet sie nur auf.


Welche entscheidende Rolle bei der Konkurrenz der Wirklichkeiten die Sprache spielt, zeigt Pirandello in seiner Novelle „Maestro Amor“. Konkrete sprachliche und kulturelle Verständigungsschwierigkeiten werden hier zum Bild für die falsche Illusion des Verstehens, die sich auf die Abstraktheit und Leere der Worte verlässt. Die Heirat eines italienischen Lehrers mit seiner deutschen Sprachlehrerin entpuppt sich deshalb schlicht als persönlich folgenschwerer „Grammatikfehler“. Das Leben behält bei Pirandello am Ende immer das letzte Wort. „Das nackte Leben“ heißt folgerichtig auch die Novelle, in der der „Friedhof der Kunst“ von der Lebenswirklichkeit eingeholt wird. Die Kunst stellt letztlich nur die Bühne für das eigentliche Schauspiel dar: der tragische Konflikt zwischen dem ständig bewegten Leben und der Form, die es unwandelbar fixiert.


Pirandellos in „Maestro Amor“ versammelte „römische Novellen“ demonstrieren, wie im Zuge der neuzeitlichen Sprach- und Erkenntniskritik Wirklichkeitserfahrung, Verständigung und die Einheit des Subjekts von Grund auf fragwürdig werden. Pirandello greift damit die Themen seiner Epoche auf, des Fin-de-siècle. Im Nachwort ordnet Meike Albath seine Erzählungen in den biographischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein. Auffallend ist jedoch die besondere geistige Verwandtschaft Pirandellos zu anderen singulären Denkern des neunzehnten Jahrhunderts wie Friedrich Nietzsche und Oscar Wilde. Wie er literarisch-philosophische Grenzgänger, die die Konsequenzen aus der Krise des Subjekts in einer gedanklichen Zuspitzung und Radikalität der poetischen Form präsentieren, die ihre Zeitgenossen provoziert und schockiert. Was Luigi Pirandellos Erzählungen in „Maestro Amor. Römische Novellen.“ aber darüber hinaus auszeichnet, ist ihre Menschlichkeit und ihr Humor. Der Konflikt zwischen Leben und Form wird bei Pirandello zur tragikomischen Groteske, in der Mitleid und Lachen am Ende über das Denken siegen.

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