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Lebensthema Ode an die vierzehn Einsamkeiten

Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem "r", Droschl Verlag, 158 Seiten.
Beitrag vom 09.06.2014 im Deutschlandfunk - Büchermarkt, Moderation Hubert Winkels
http://www.deutschlandfunk.de/lebensthema-ode-an-die-vierzehn-einsamkeiten.700.de.html?dram:article_id=288652
Beitrag hören  (Zitate gesprochen von Ulla Gesien, DLF-Sprecherensemble)


Ilma Rakusa wurde 1947 als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter geboren. In ihrer "Kofferkindheit" zog sie mit ihrer Familie oft um. Das Thema "Einsamkeit" begleitet Rakusa, die als Übersetzerin, Publizistin und freie Schriftstellerin in Zürich lebt, bis in die Gegenwart. In ihrem neuen Buch "Einsamkeit mit rollendem 'r'" widmet sie ihrem Lebensthema vierzehn Erzählungen.

Sehnsucht ist die Schwester der Einsamkeit. Bei Ilma Rakusa heißen sie Katica und Dóra. Die musikalischen Zwillinge aus Budapest spielen ihre Sehnsuchts-Duette von Bartók in einer Unterführung, als die Erzählerin sie kennenlernt. Die Geige sei von Kind an ihr Instrument gegen die Einsamkeit gewesen; zusammen mit ihrer Stimme sei sie das einzige Heilmittel gegen ihre Tieflandsehnsucht, erfährt sie von Katica.

"(...) sie war ein Ungarkind. In der Steppe groß geworden, wo die Erde ein Teller ist und darüber der Himmel unfassbar weit. Solche Räume hältst du nur aus, wenn du gegen sie ansingst. Auch dann ist es schwer. Die Häuser ducken sich flach, die Viehherden verschmelzen mit dem Horizont, der Mensch - ein Punkt in der Landschaft. Ein Punkt, nicht mehr."

Ilma Rakusas Erzählungen sind selbst Gesang. Ihre Ode an die vierzehn Einsamkeiten sind musikalische Sprachkompositionen, die die universelle existenzielle Ausgesetztheit des Menschen an unterschiedlichen Lebensläufen und Orten nachzeichnen. Jede der Figuren lebt in ihrer eigenen Fremdheit. Und immer ist es die Erinnerung mit rollendem "r", die sie wie ein fernes Donnergrollen einholt. Doch alle werfen ihren Sehnsuchtsanker nach einer anderen Richtung aus.
Für die Erzählerin bedeutet Lesen Heimat

Für den jüdischen Freund Misi ist es das Meer. Der Ozean ist sein persönlicher Fluchtpunkt; Ziel seiner unerfüllten Sehnsucht nach dauerhafter Ruhe und Erlösung vom lebenslangen Reisen und Weiterziehen: Von Budapest nach London, als britischer Soldat in die ägyptische Wüste, von dort verwundet zurück, dann weiter nach Mailand und Triest.

"Das Meer war sein Element. Er wollte es ansehen, wollte es streicheln, wollte sich seiner rauhen oder glatten Oberfläche anvertrauen. (...) Da saßen wir auf der Bank, und er sprach nicht. Ich sah, wie seine Augen den Horizont absuchten (...). Die Brandung war leise. Das Meer graublau. (...) Es roch nach Pinienharz und Jod (...). Er fixierte den Horizont, als sähe er dort sein besseres Schicksal."

Was für Misi das Meer, ist dem russischen Freund Juri im französischen Exil seine Liebe zur Poesie. In Venasque, einem kleinen verschlafenen Örtchen unterhalb der sonnenhellen Kuppe des Mont Ventoux, verbringt die Erzählerin gemeinsam mit Juri einen Sommer. Der Rhythmus ihrer glutheißen Tage im provenzalischen Ferienhaus wird bestimmt vom Gesang der Zikaden, dem Duft der Pinien, von wildem Thymian und Rosmarin und Juris auswendig zitierten Versen. Wenn der Mistral "an den Wimpern der Seele" zerrt, ist für sie beide Lesewetter. Literatur ist nicht nur für Juri Rezept gegen die Einsamkeit.

Auch für die Erzählerin bedeutet Lesen Heimat. Als sie einmal im italienischen Dorf Bondo Leseurlaub macht, entdeckt sie den Ort für sich als Paradies selbstgenügsamer Kontemplation und kreativer Muße:

"Es gibt Lesefelsen, Lesebaumstämme, Lesestrünke. Hier stört kein Mensch. (...) Etwas Mückengesumm. Und kein Gefühl, irgend etwas verpasst zu haben. Der Wald blickt ins Buch, das Buch in den Wald. Das Ich sucht nichts, außer was ist. Im gesinterten Licht, das durch die Krone der Kastanie fällt, lese ich flackernde Buchstaben."

Wie Katica, Venasque und Bondo stehen verschiedene Menschen und Orte in Ilma Rakusas Erzählungen für unterschiedliche Einsamkeiten und Sehnsuchtsanker.
Die Verlorenheit in vielen Facetten

So erinnert sich die Erzählerin an eine Jugendliebe im Winterurlaub. Damals bewunderte sie den Skikünstler Maurice für seinen eleganten Stil. Später erfährt sie: Seine melancholischen Kurven im Schnee waren Ausdruck der Sehnsucht nach dem abwesenden Vater.

Einsamkeit macht sprachlos. Auch dem slowenischen Freund Josip fehlen die Worte. Er kommt nicht über den Tod seiner Frau hinweg. Für ihn lebt sie weiter. Als Engel. Er fühlt: Im abgeschiedenen Karstdorf wacht sie noch immer über jeden seiner Schritte. Mitten in der Einsamkeit des Karsts fühlt er sich von Tomaj engelsgleich umarmt wie von seiner verlorenen Liebe.

"Tomaj ist ockerfarben, duftet an diesem Julitag nach Thymian und Buchs. Bis die Sonne die Gerüche versengen wird. Bleiben nur noch Restchen da und dort, im Zypressendunkel, in der Holunderjacke. Josip werkelt schon im Gemüsegarten (...). Alles sprießt unter den Händen des Instinktgärtners, der beim liebevollen Gießen und Jäten seine Barbara-Trauer ausbluten lässt."

Das japanische Nagoya wird für die Erzählerin selbst zum Ort meditativer Einsamkeit, die alle Sinne schärft. Jede Entdeckung sei hier intensiv und fragil. Einsamkeit empfindet sie in der fernöstlichen Fremde als Katalysator kreativer Wahrnehmung. Ein Zustand höchster Sensibilität, der die Aufmerksamkeit in alle Richtungen öffnet: zum Sinnlichen und Übersinnlichen. Einsamkeit als Tor der Erkenntnis? Die Erzählerin zitiert einen Weisen: Man könne das Leben um drei Haaresbreiten verfehlen. Wenn man zu wenig liebe, zu wenig träume oder zu wenig nachdenke.

Ilma Rakusas Ode an die vierzehn Einsamkeiten ist nicht nur Trauergesang. Die Autorin besingt die Verlorenheit in vielen Facetten. Dazu gehört auch und nicht zuletzt das Loblied der Einsamkeit als Quelle künstlerischer Inspiration. Einsamkeit hat eben viele Buchstaben. Auch solche wie das rollende "r", die man erst beim Erinnern hört. Ilma Rakusas Buch über die "Einsamkeit mit rollendem ‚r'" ist eine feinfühlige, sinnliche Sammlung wehmütiger, aber auch freudiger Einsamkeiten; vierzehn lichtdurchflutete Erzählungen über die Schatten der Einsamkeit, "durch die das Leben leuchtet."

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