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Zuglärm und Orgelklang.

Ilma Rakusa: Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Droschl 2009. 321 Seiten.

Rheinischer Merkur (Literatur), Nr. 49, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 3. Dezember 2009, S. 2.

 

ERINNERUNGEN. In der Ruhelosigkeit liegt ihre poetische Stärke. Ilma Rakusas Buch "Mehr Meer" ist ein Meisterwerk. Dafür erhielt sie den Schweizer Buchpreis 2009.


Heimat ist nicht zählbar. Sonst könnte die junge Ilma Rakusa sie bereits an ihren Fingern abzählen: die Orte, an denen sie als Kind schon zu Hause war. Geboren wird sie 1946 im slowakischen Rimavská Sobota. Dort wächst sie die ersten Monate tantenbehütet auf. Ihr Großvater ist Direktor der Konservenfabrik, der Vater Chemiker, ihre Mutter leitet die örtliche Apotheke. Ilma ist kaum Zwei, als die Familie nach Budapest zieht. Sie erinnert sich: Kinderfrau Piri und ihre Mutter singen ungarische Kinderlieder und erzählen ihr Märchen wie das vom türkischen Kaiser und dem Hühnchen mit dem diamantenen Halbkreuzer.

 

1949 geht es weiter: nach Ljubljana. Die Familie wohnt im Haus von Onkel und Tante in der Nähe der Bahngleise. Das kleine Mädchen Ilma, verunsichert von Kofferkindheit und erschreckt vom nächtlichen Rangieren der Güterzüge, klammert sich an ihren räudigen Pelzhandschuh. Mit dem ständigen Begleiter aus abgewetztem Kaninchenfell spricht sie die ersten Worte in der Vatersprache slowenisch. Aber auch die Studienstadt des Vaters bleibt nur ein Übergangsort.

 

Es geht weiter nach Triest. Wasser, Wind, Wärme, Stein, Weiß, Blau, Muschel, Tang, Immergrün, Lorbeer, Rosmarin, Rebe, Oleander und Kinderschaukel, Fische und Schiffe buchstabiert das Mädchen Ilma ihr Stenogramm des Glücks. Unvergesslich: das Meer, die Bora und die tägliche Siesta. Die heißen Nachmittagsstunden hinter heruntergelassenen Jalousien werden zum Zentrum ihrer Kindheit.

 

Schnee auf dem Gotthard-Paß überrascht die Familie bei ihrem Aufbruch in die Schweiz in ihrem Oldsmobile mit Sommerreifen. Als sie 1951 nach Zürich ziehen, fühlen sie sich nicht willkommen. Ilma sehnt sich nach den Strandfelsen von Miramar, den Akazienalleen, dem Himmel und der würzigen Luft am Meer. Der Schnee ist kein Ersatz. Beim Schlittenfahren holt sie sich eine Gehirnerschütterung – Ursache lebenslanger Migräne-Anfälle. Zuhause fühlt sie sich nur beim Lesen und am Klavier.

 

Das bleibt auch so, als Ilma Rakusas Traum eines Studienjahrs in Paris in Erfüllung geht. Aus der Einsamkeit in der großen Weltstadt und der Enge ihrer dunklen Kammer auf der Île de la Cité flieht sie ins Klavier- und Orgelspiel. Ihr Lehrer ist Organist M. Beim gemeinsamen Spiel wächst eine gegenseitige Liebe. Aber Ilma Rakusa bleibt nicht in Paris.

 

Sie sehnt sich nach dem Osten. Als Studentin besucht sie Prag und geht für ein Jahr nach Leningrad, um dort für ihre Dissertation zu recherchieren. Nach der Rückkehr ergänzen die sozialistische Stadt an der Newa und die russischen Freunde ihre lange Vermisstenliste. Ilma Rakusa wird es auch weiterhin ostwärts ziehen: Später macht sie Reisen nach Usbekistan, nach Georgien, in den Iran. All diese Orte und Erlebnisse ruft sich die Autorin in ihren Erinnerungspassagen „Mehr Meer“ wieder wach.

 

Rakusa erinnert sich mit allen Sinnen. Ihre Nase riecht noch einmal den scharfen Geruch der Braunkohle in den Städten des Ostens und den milden Duft der von wilden Kräutern, Sand und Salz geschwängerten Luft am südlichen Meer. In ihrem Ohr rattern wieder die Güterzüge unweit ihrer Dachwohnung und sie lauscht den Orgelklängen M.’s in der Pariser Kirche Saint-Séverin nach. Rakusas Erinnerung an Orte ist immer auch mit Literatur verknüpft: am lebendigsten in den Rezitationen der Leningrader Freunde, die unzählige Gedichte aus dem Kopf wiedergeben konnten. Menschen wie sie werden zu ständigen Begleitern in Ilma Rakusas Erinnerungspassagen. Für eine bereichernde Lektüre lang macht sie auch den Leser zum Mitreisenden. „Mehr Meer“ ist ein reiches Buch voller sprachlicher Sensibilität: reich an vibrierenden Sinneseindrücken und persönlich erlebtem Nachdenken über Erinnern und Vergessen und reich an poetischen Liebeserklärungen an Menschen, Orte, Literatur und Musik.

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