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Aus der Maulwurfsperspektive

Angelika Reitzer: "Unter uns", Residenz Verlag, St. Pölten 2010, 288 Seiten.
Sendung vom 16.12.2010 im Deutschlandfunk, Moderation Hubert Winkels
http://www.deutschlandfunk.de/aus-der-maulwurfsperspektive.700.de.html?dram:article_id=84861

Beitrag hören  (Zitate gesprochen von Liane Dammenhayn, DLF-Sprecherensemble)

 

Die Wiener Autorin Angelika Reitzer erzählt in ihrem zweiten Roman "unter uns" eine bedrückende Geschichte über die "Generation Projektarbeit": Ständig wechselnde Jobs bestimmen Wohnort, Arbeitstakt, Restzeit für die Partnerschaft und nicht zuletzt die Lebensqualität der Romanfiguren.

Das Leben ist ein Episodenfilm. So jedenfalls stellt es sich in Angelika Reitzers Roman "unter uns" dar. Familie war gestern; das neue Existenzformat heißt Lebensabschnitt. Jede Episode zwingt zu neuen Standortbestimmungen: beruflich, persönlich und in der Partnerschaft. Vielleicht wirken Angelika Reitzers Romanfiguren deshalb ein wenig orientierungslos, gleichsam verschwommen; wie das auf dem Cover abgebildete unscharfe, ausgeblichene Farbfoto einer Frau zwischen 30 und 40.

Es könnte Clarissa sein, die Hauptfigur des Romans. Um sie herum rankt sich eine lose Ansammlung von Freunden und Bekannten gleichen Alters. Diese werden in abwechselnden Episoden aus der unterschiedlichen Perspektive verschiedener Erzähler vorgestellt. Wie elektrische Teilchen schweben die Figuren scheinbar richtungslos im Raum, treffen aufeinander, gehen eher zufällig lockere Verbindungen zueinander ein, um sich irgendwann wieder voneinander zu lösen. Jobs, Partnerschaften und Patchwork-Familien sind in dauerndem Fluss. Irgendwie scheinen alle ihr Gravitationszentrum verloren zu haben. Die Lebensentwürfe wirken so dünn wie ihr virtuelles Profil, Freundschaften so unverbindlich und austauschbar wie beliebige Knoten im virtuellen Netzwerk.

"Maries Profil sagt, dass sie im Umfeld von Kunst und Ästhetik, aber auch in den Niederungen des Geschäftes mit der Schönheit tätig ist. Sie hat 48 Freunde ( ... ). Zu den Kontakten (Projekte und Möglichkeiten) ( ... ) sind mittlerweile ein paar echte Freunde dazugekommen. Die meisten von ihnen sind hier natürlich nur wegen ihres Jobs, und sie sind sich darin einig, dass Freunde in der analogen Welt wichtiger sind, aber niemand es sich leisten könne, virtuelle Freundschaften zu ignorieren. "

Marie und all die anderen sind Kinder der "Generation Projektarbeit". Ständig wechselnde Jobs bestimmen Wohnort, Arbeitstakt, Restzeit für die Partnerschaft und nicht zuletzt die Lebensqualität. Der Grad zwischen beruflichem Erfolg, privatem Glück und totalem Absturz ist dabei nur hauchdünn. Von der Assistentin der Geschäftsführung zur Arbeitslosigkeit, vom Loft in die Kellerwohnung ist es nur ein kleiner Schritt.

Clarissa hat ihren Job geschmissen, sich von Michael getrennt und wohnt jetzt bei einem befreundeten Paar im Keller. Tobias und Klaras Familienglück mit Haus und zwei Kindern im Stockwerk drüber kann sie kaum ertragen. Aus ihrer Maulwurfsperspektive erscheinen ihr aber auch die Lebensentwürfe der anderen Freunde zunehmend fremd. Ob Verlagsfrau Vera und ihr im Filmgeschäft tätiger Freund Kevin - das Paar lebt offenbar nur noch nebeneinander her. Oder die dreifache Mutter Susanna und ihr Freund Florian, die sich nicht entschließen können, endlich zusammenzuziehen - weder in Florians neuem Arbeitsort London noch sonstwo.

Im "liquid life" der Postmoderne sind alle Strukturen der modernen Lebenswelt liquid, flüssig geworden. Fremde ist kein Ort, sondern ein Zustand. Der Weg zurück in traditionelle Strukturen ist verschlossen. Dafür steht der endgültige Abschied von Clarissas Eltern. Diese verpachten ihr Gasthaus und verschwinden auf eine Reise ohne Wiederkehr. Was Clarissa bleibt, sind alte Familienfilme. Von der Vergangenheit abgeschnitten, ohne berufliche und private Perspektiven, wird ihr nach und nach der Kontakt zu den Freunden unerträglich. Sie zieht sich in ihr Kellerloch zurück:

"Manchmal half viel Wasser gegen die Kopfschmerzen, ich trank ein paar Gläser, es schmeckte wieder abgestanden, ich duschte lange, von oben war nichs zu hören, welche Tageszeit war das, welcher Tag war heute, wie lange hatte ich geschlafen, war es überhaupt schon hell? Ich kannte mich nicht aus, in mir, um mich herum war alles unklar ( ... ) Während ich mich anzog, hörte ich Wasserrauschen, den Abfluss, schon wieder den Abfluss, darauf ließ ich mich doch schon lange nicht mehr ein, das betraf mich nicht. Oben war es still. Und in mir."

Clarissa ist eine postmoderne Borderline-Existenz. Für Menschen wie sie bleibt im "liquid life" nur die Straße oder die Brücke, zu der es sie immer wieder hinzieht. Doch als Clarissa sich am Ende des Romans tatsächlich mit den Füßen in den Bach darunter stellt, ist das Wasser nicht einmal einen halben Meter tief.

Aus der Keller-Perspektive zeigt Angelika Reitzer in ihrem Roman "unter uns" die Leere hinter dem nur oberflächlich perfekten Lifestyle der "Generation Projektarbeit". Nur von unten sieht man ihre von der Jobjagd abgetretenen Schuhe. Reitzers Bilder aus dem Untergrund sind bedrückend - und sollen es auch sein. Das Leben im Projekt-Format ist kein Ort für Träume und Sehnsüchte.

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