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Das Gedicht lebt, solange Honig klebt

Oliver Rolin: Die Papiertiger von Paris. Karl Blessing Verlag, München 2003. 256 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 9, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 26. Februar 2004, S. 21.

 

ROMAN Oliver Rolin gelingt ein herrlich ironisches Psychogramm der Alt-68er

 

Ein Pariser Salonrevoluzzer macht eine Spritztour in seine revolutionäre Vergangenheit und endet in der Sackgasse.

 

Oliver Rolin hat mit „Die Papiertiger von Paris“ einen großen Roman der Protestgeneration von 1968 entworfen. Rückblickend beschwört er einerseits die utopische Energie der hoffnungsvollen Weltveränderer, zieht aber andererseits mit schonungsloser Selbstironie ein ernüchterndes Fazit der gescheiterten Revolte.

 

Rolins Roman, der sich sprachlich und formal an den experimentellen Stil der Beat-Generation anlehnt, entwickelt einen mitreißenden assoziativen Erzählsog von großer Dichte. Mit Farbexplosionen im Stil der „Odyssee im Weltall“ des Filmregisseurs Stanley Kubrick, mit Zeitbrüchen und Raumsprüngen kreiert er einen literarischen Trip, der beim Lesen wie eine Droge wirkt. Eine Halluzination, in der radikale Kritik und „historische Melancholie“ zu einem ganz neuen Erlebnis der 68er verschmelzen.

 

Der Autor schickt den knapp sechzigjährigen ehemaligen Linksradikalen Martin stellvertretend auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“. Vehikel der Erinnerung ist ein klappriger Citroën DS, vom Erzähler liebevoll „Raumschiff Remember“ genannt. Die Koordinaten der Zeitreise: der Autobahnring um Paris an einem der ersten Tage des 21. Jahrhunderts. Beifahrerin ist die 24-jährige Tochter seines Freundes und Kampfgefährten Treize, der vor 20 Jahren tödlich verunglückte.

 

Während sie – mit vorbeiflirrenden Reklametafeln und Verkehrsschildern als psychedelischem Hintergrund – mehr als zehn Runden um den Péripherique kreisen, erzählt Martin von ihrem Vater und der gemeinsamen Vergangenheit vor über dreißig Jahren. Beide Mitglied in einer militanten linksradikalen Gruppe in Paris, der maoistischen „La Cause“, definieren sie sich vor allem als Bestandteil des Kollektivs unter dem Führer Mao, „dem Großen Steuermann“.

 

Rasant passiert das „Raumschiff Remember“ – quasi auf der historischen „Überholspur“ – zahlreiche Orte in und um Paris, die dem Erzähler als Markierungspunkte der Erinnerung an gemeinsame politische Aktionen, aber auch an Martins vaterlose Jugend und die Suche nach der Geschichte des als Soldat in Vietnam verstorbenen Vaters dienen. Bruchstückhaft berichtet Martin von den endlosen Diskussionen über die revolutionären Ideale, den strengen Regeln des Kollektivs, den radikalen Aktivitäten und ihrem Leben im Untergrund. Ständig an der Grenze zur Illegalität, drucken und verteilen sie Flugblätter, gründen Piratensender, brechen Fahrkartenkioske auf, um kostenlos Metro-Scheine zu verteilen, und planen Entführungen und Anschläge.

 

Für ihren Traum von einer besseren Welt im Kampf gegen die übermächtige Vergangenheit setzen die Freunde nicht nur ihre bürgerliche Existenz aufs Spiel, sondern riskieren sogar ihr Leben. „Heute meint man, es gebe nur die Gegenwart, den unmittelbaren Augenblick . . . doch damals war die Gegenwart viel bescheidener . . . Die Vergangenheit hatte eine gewaltige Präsenz und die Zukunft auch. Die Vergangenheit, die Geschichte, war der große Projektor von Zukunftsbildern.“ Ein, so Martin, durchaus positives Heldentum mit einer grundlegend poetischen Denkweise: Aus einem Gefühl des Deplatziertseins in der falschen Gegenwart und Gesellschaft werden die Vorbilder der Vergangenheit glorifiziert, um sie auf eine verheißungsvolle Zukunft zu projizieren.

 

Als zu hohen Preis der Utopie zahlen die politisch und moralisch geblendeten Rebellen allerdings mit individueller Selbstaufgabe im Dienst der Mission – symbolisiert durch den Freitod von Treize' Vater –, mit Verachtung von Glück und Schönheit, Humorlosigkeit und nicht zuletzt mit Liebes- und Beziehungsunfähigkeit. Aus diesem Grund – und mit dieser einen Frage trifft Treize' Tochter den Erzähler mitten ins Herz – bleibt Martin kinderlos. Das persönliche Schicksal entspricht dabei der Unfruchtbarkeit der Revolte selbst: Am Ende lagen „unsere Glaubenssätze in Trümmern, aber es waren sehr sperrige Trümmer, auf denen nichts Neues gewachsen, nichts Neues aufgebaut worden war.“

 

Mitte der siebziger Jahre löst sich die Gruppe auf, symbolisch zu Grabe getragen durch das Verscharren des restlichen Dynamits. „Im Grunde genommen waren wir auch Papiertiger.“ Den Wunsch allerdings, Helden zu sein, findet Rolin nach wie vor „schöner als den heute herrschenden Zynismus, als die bloße Suche nach individuellem Profit, nach Karriere“.

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