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See im Augenschein

Ralf Rothmann: Hitze. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 289 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 12, Rubrik: Leipziger Bücherfrühling, Donnerstag, 20. März 2003, S. 25.

 

ROMAN / Nichts als Betrachter will Ralf Rothmann in seinem neuen Buch sein. See im Augenschein.


Der Roman „Hitze“ von Ralf Rothmann beginnt symbolträchtig mit einem subjektlosen Blick, der, ausgehend von einer Berliner Häuserfassade, die auffliegenden Tauben verfolgend, in den Himmel steigt und danach mit ihrem Kot auf das Pflaster fällt, die Straße entlang, wie in einer Kamerafahrt, zum Zeitungskiosk schwenkt, wo er auf Simon DeLoo trifft, um ihn in den gegenüberliegenden Imbiss zu begleiten.

Simon DeLoo, der Protagonist des Romans, wird vom Beobachteten zum lautlosen Beobachter der Kiez-Szene und des weiteren Verlaufs der Geschichte. DeLoo erweist sich, ohne Tiefe und Profil, beinahe wesenlos modelliert, als idealer Beobachter. Nur mit wenigen, eher eigenschaftslosen als kennzeichnenden Charakteristika wird der Nichtraucher und Vegetarier, der sogar Alkohol und Kaffee ablehnt, unscharf skizziert. Gleichzeitig fokussiert der Autor damit das Augenmerk des Lesers auf die um so schärfere Wahrnehmung der Hauptfigur.


Bruchstückhaft erfährt der Leser spärliche Details über den buchstäblich „gesichtslosen“ Simon, dessen Äußeres nie beschrieben wird: über seine Unterkunft in einem heruntergekommenen Haus in Berlin Kreuzberg, in dem sich auch die Wohnung der verstorbenen Frau befindet, über seine türkische Stammkneipe um die Ecke und seine Vermieterin und Nachbarin, die über achtzigjährige Malerin Lia Andersen.

DeLoo ist, als „Mann ohne Eigenschaften“ und nicht zufällig Ex-Kameramann, das ideale „Auge des Erzählers“. Damit bekommt der befremdliche Name DeLoo, der an das englische „look“ – schauen, blicken – denken lässt, eine symbolische Bedeutung. Auffällig ist die Genauigkeit des Sehens, bei dem jedes Detail durch die Beschreibung an Wichtigkeit gewinnt. Scheinbar Nebensächliches wird so unter seinem Blick zum Wesentlichen: wie in der schmalen Straße, in der unter schwarzblauem Himmel „die bunten Glasmurmeln der Kinder“ aufzuglühen schienen, „wenn sie durch die Lichtfelder rollten, die aus den Fenstern des neuen Lokals an der Ecke fielen“.

Durch das exakte „Objektiv“ des Großstadtflaneurs DeLoo geschaut, führt Rothmann den Leser durch die Straßen und in die Hinterhöfe Berlins. DeLoo heuert als Fahrer in einer schäbigen Großküche an. Unter seinen Kochkollegen und beim Ausliefern begegnet er typischen Berliner Großstadtgewächsen: skurrilen Menschen in ihren seltsamen Behausungen wie der einsame Schrotthändler, der das Essen mit seinem Hund teilt, die verrückte Vogelfrau, der dicke Buchhändler, der in seinem winzigen Laden antiquarische Schätze beherbergt, die einladenden Nutten in dem von einer Polin geführten Bordell, die zynischen Schlachthof-Angestellten oder die Stadtstreicher in der Manteuffel ...
Buchstäblich auf der Straße begegnet DeLoo Lucilla, einer jungen Stadtstreicherin aus Polen, in der er seine frühere Frau wiederzuerkennen glaubt. DeLoo nimmt sie mit in die leerstehende Wohnung seiner Frau, aus der sie am nächsten morgen wortlos wieder verschwindet, bis sie unerwartet mit der Bitte auf ihn zukommt, sie nach Polen in ihre Heimat zurückzubringen.

In Dolgie, Lucillas Heimat, ein paradiesischer Ort auf einem pommerschen Gehöft an einem idyllischen See, scheint DeLoo nicht nur durch die Liebe in seine eigene Geschichte zurück, sondern auch zu einem befreiten Sehen und zum Ideal des Erzählens zu finden, die in Passagen wie dieser ihren poetisch intensiven Ausdruck finden: „Kirschbäume umschatteten sie, und jenseits der zarten, ein Stück weit gekalkten Stämme, wo das Gras nicht mehr gemäht wurde und die Spitzen einzelner Ginsterbüsche in einer warmen Brise wippten, fiel das Gelände mit einem langen, wie ein befreites Ausatmen immer länger sich hinziehenden Schwung nach Osten ab, dem See zu, einem grünen Glanz, der zu schweben schien hinter den Erlen am Ufer.“

Hier eröffnet sich die zweite Erzählebene und Namenskonnotation DeLoos zu „loose“ – lösen, sich befreien. In dem aus Raum und Zeit gehobenen Ort kommt es zu einer Art Wesensschau, in der auch der Titel des Romans, „Hitze“, verständlich wird. Die sommerliche Hitze „war unglaublich, mehr als Temperatur; als sollte alles Vergangene und Zukünftige zu nichts als Gegenwart verschmolzen werden, einem hochblau überwölbten Jetzt und Hier.“ Ebenso symbolträchtig als Ort der Vereinigung und gleichzeitigen Befreiung fungiert der See als zentrales Element der paradiesischen Szenerie. Der in mehrfacher Hinsicht Verbindung stiftende See wird zum Schluss zur Bühne des Abschieds, die DeLoo mit schwimmenden Lichter tragenden Papierschiffchen nach japanischem Toten-Gedenk-Ritual inszeniert, denn die Idylle kann, wie der Sommer, nicht von Dauer sein.

Und so schließt sich mit anbrechendem Herbst am Ende der Erzählung auch der Jahreskreis im winterlichen Berlin, wo die Erzählung begonnen hat. Gleichzeitig öffnet sich eine dritte Erzählebene mit der Namenskonnotation DeLoos zu „loop“ – Schleife, Schlinge. Die Rückfahrt wird aber keine Heimkehr, sondern besiegelt das Scheitern der Figur. Zurück in der Stadt sind sämtliche Visionen zerbrochen. DeLoo ist, so der Titel des fünften und letzten Kapitels, „reif“ für den endgültigen Abschied.

Szenerie und Figuren bleiben in „Hitze“ letztendlich Staffage, der konstruierte Handlungsrahmen bildet lediglich die Bühne für das eigentliche Thema des Rothmannschen Romans: die Bewusstseinsforschung. Rothmann nimmt den Leser mit auf einer Reise ins eigene Bewusstsein, um seine Grundlagen und Zusammenhänge radikal und schonungslos bis an die Grenzen auszuloten. Ralf Rothmann demonstriert stellvertretend an der Kunst-Figur DeLoo das Zusammenwirken von Wahrnehmung, Bewusstsein und Sprache und gleichzeitig die Macht und Ohnmacht der Kunst, die nur für buchstäbliche Augen-Blicke die drei Momente zu einer Einheit zusammenzufügen vermag.

Diese Augen-Blicke sind zugleich poetisches und Lebensziel, wie in der Ausstellung der sterbenden Malerin deutlich wird, denn ihre Bilder sind „Fenster, durch die wir endlich jenes ganz und gar immaterielle Licht sehen können, von dem uns die alten Mystiker erzählen, und die uns einen Blick in die eigene Seele ermöglichen: Wie schön, wie rein, ja göttlich sie sein könnte“ und „Leben ist leicht. Sterben ist leicht. Das Schwere ist nur die Angst vor dem Leben, die Angst vor dem Tod – und die kann uns diese Kunst, für Augenblicke, nehmen.“
Rothmanns poetisches Erzähltalent fasziniert in „Hitze“ vor allem durch ein sensibles Gespür für Details und eine poetischen Beschreibungskraft, die manchmal in einigen Formulierungen an Peter Handkes Schwellenpoesie denken lässt. Die Versuche aber, die gelungene sprachliche Poesie durch Alltagsdialoge kontrastierend zu brechen, gelingen leider nur selten. So wirken die Gespräche, oft im schnoddrigen Straßenjargon, häufig verkrampft und wenig originell. Hinzu kommt, dass die Beschreibungen des Flaneurs, der scheinbar ohne eigenes Ziel durch die Stadt treibt, zwar den Charme des Tagträumers, aber zum Teil auch die Beliebigkeit des willenlosen Beobachters haben.

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