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Das Glück hat viele Gesichter ...

José Saramago: Die portugiesische Reise. Aus dem Spanischen von Karin von Schweder-Schreiner und Nicolai von Schweder-Schreiner. Rowohlt 2003. 605 Seiten.

unveröffentlicht

 

„... Das Reisen ist wahrscheinlich eines davon.“ Der jetzt über achtzigjährige José Saramago, dem 1980 mit der Familienchronik „Hoffnung im Alentejo“ der literarische Durchbruch gelingt, bekommt 1981 das Angebot, einen Reiseführer über das damals noch touristische Niemandsland Portugal zu schreiben. Der Autor macht seinem Verlag einen Gegenvorschlag: „Ich würde eine Reise machen, so wie ich Lust hatte (...) und über (...) diese Reise (...) schreiben. Also keinen Reiseführer, sondern eine Erinnerung an diese Reise.“ Entstanden ist  keine touristische Lektüre für die Handtasche, sondern ein sechshundert Seiten umfassender Reisebericht, der jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. „Gleichzeitig ist es ein Buch über Portugal geworden.“


Saramago reist durch sein eigenes Land und „durch die Kultur, die ihn prägte und immer noch prägt“ und begibt sich damit stellvertretend auf die Suche nach der eigenen portugiesischen Identität, einem nationalen und zugleich individuellen Selbstbewusstsein. Es ist eine Forschungsreise mit dem Ziel, „das endlose Murmeln eines Volkes“ aufzuzeichnen, um den Reisenden über die Spuren der jahrhundertealten Geschichte Portugals zurück zur eigenen Herkunft zu leiten. Eine mehrmonatige Fahrt führt den Autor in sechs Teilstrecken von Nord nach Süd und Ost nach West. Die „Tour des Portugueş“ beginnt im unwirtlichen nebligen Oktober fernab in den Bergen und endet im Frühsommer an der sonnendurchfluteten Algarve im äußersten Südwesten bei der steil abfallenden Küste von Sagres. „Es ist ein sehr einsamer Weg, Dutzende von Kilometern ohne eine Menschenseele, Berge über Berge, wie kann ein so kleines Land so riesig sein.“


Aber die Route ist für Saramago zweitrangig, denn für ihn ist Reisen „eher eine Sache des Bewusstseins als der Fortbewegung.“ Voraussetzung für diese Bewusstseinsreise sind höchste Aufmerksamkeit und eine aufs Äußerste geschärfte Wahrnehmung, denn „Reisen heißt entdecken, alles andere nur vorfinden.“ „Die Philosophie dazu lautet: Alles ist eine Reise. Das, was man sieht, und das, was sich versteckt, das, was man berührt, und das, was man erahnt, das Tosen des Wasserfalls und diese leichte Schläfrigkeit, die die Berge umhüllt.“


Zur Schärfung des Blicks nähert sich der Autor dem Heimatland aus der Fremde von der spanisch-portugiesischen Grenze her. Der prototypische „Reisende“ sieht in idealer Weise alles mit unverstelltem Blick. „Hinter den Bergen“ in Trás-os-Montes beginnt die beschwerliche Fahrt über schlechte Straßen in zahllose Dörfer. Der Start im Niemandsland ist programmatisch: Der Reisende soll das Vertraute unverfälscht und wie zum ersten Mal sehen mit dem Ziel, alles gleich-berechtigt zu betrachten und gleich-gültig zu bewerten. Augenzwinkernd wundert sich der Einheimisch deshalb: „In was für einem Land bin ich hier eigentlich, fragt der Reisende seinen Wein im Glas, der nicht antwortet, sich aber gütigerweise trinken lässt.“

Der Charakter des Landes und der Region, die Mentalität der Menschen, die Geschichte und Geschichten spiegeln sich auch und gerade in der Kultur, die sich in der Provinz vornehmlich in der sakralen Kunst manifestiert. Als kulturgeschichtlicher und kunsthistorischer Autodidakt erkundet Saramago Kirchen, Klöster und Paläste. „Er sucht die Kunst dort, wo sie ist, er geht in die Kirchen, in die Kapellen, zu den Grabmälern, und überall stellt er dieselben fragen: Was ist das? Wer hat das gemacht? Was wollte er uns damit sagen? Worin bestanden seine Angst oder sein Mut? Welchen Traum wollte er sich als Nächstes erfüllen?“


Was ihn an der Kultur im Besonderen interessiert, das sind die Menschen, die sie gemacht haben, die Menschen, an die sie erinnert und die Menschen, mit denen sie sich beschäftigt. Der Reisende sucht gezielt Kirchen und Friedhöfe als dörfliche Kommunikationszentren auf, weil sich dort die Geschichten der Toten und Lebenden verknüpfen. „Friedhöfe sind ja keine Orte nur für die Toten. Auf Friedhöfen findet man Geschichten von Leuten, die mal gelebt haben.“ Saramago spürt Lebensgeschichten und Legenden auf, mischt vorhandene mit erdachten Mythen und sammelt historische Anekdoten über Könige, Krieger, Maler, Entdecker, Schriftsteller, Heilige und Sünder. Der Autor bringt Menschen zum Erzählen und Steine zum Reden: „Man muss sich genau umschauen, ganz still sein und warten, dass die Steine mit einem sprechen, und wenn man Geduld hat, so wird man schließlich nur ungern gehen.“


Leider werden die Geschichten für den Leser nur selten so lebendig wie bei diesen: der Legende des als Christusfigur tradierten Helfers im Konflikt mit den Spaniern, dem Soldaten, der zu Unrecht zu Tode verurteilt wird, da jemand in seiner verliehenen Uniform gemordet hat, der jungen Frau, die nach der Geburt des ersten Kindes nichts von dem zweiten weiß und es einen Tag später tot zur Welt bringt oder dem surrealen Disput des Reisenden mit dem Leibhaftigen. Auch Landschaftseindrücke werden meist nur schemenhaft erfahrbar. Auch wenn der Reisende vorgibt, „zwanzig Sinne“ zu haben und“ in der Lage ist (...)  zu hören, was er sieht, zu sehen, was er hört, zu riechen, was er mit den Fingerspitzen tastet, und auf der Zunge das Salz zu schmecken, das er gerade in diesem Augenblick auf der von der offenen See heranrollenden Welle hört und sieht“. Saramago gelingt es in der „Portugiesischen Reise“ leider nur momentweise, diese Wahrnehmungen auch sprachlich zu vermitteln. So bedauert der Leser gemeinsam mit dem Reisenden, „dass eine Reihe von Wörtern nicht gleichzeitig eine Kette von Bildern, Lichtern und Klängen ist, dass der Wind nicht zwischen ihnen hindurchweht, dass kein Regen auf sie fällt“ und Portugal in der „portugiesischen Reise“ nur selten lebendig wird. Das „ hinsehen und wahrnehmen, anhalten und herumgehen, nachdenken und die Gedanken aussprechen“ wird zum großen Teil viel zu kleinteilig zu Papier gebracht, und die Details werden in der Masse der Schilderungen zur Beliebigkeit abgewertet. Subjektive Momentaufnahmen und prägende Charakteristika bleiben kaum haften. Die Informationen über die sechshundert im Ortsverzeichnis aufgelisteten Stätten nivellieren sich auf hunderten von Seiten. Das Ende der Lektüre und der Schluss der Reise lässt den Leser daher etwas ratlos und orientierungslos zurück. Es wird ihm allenfalls gleichzeitig mit dem Reisenden „bewusst, was für eine lange Reise er hinter sich hat. Von Rio de Onor bis Vila do Conde, vom Gemurmel zum geschriebenen Wort, freimütig und offenherzig über Berge und Täler, durch Regen und Nebel, unter wolkenlosem Himmel, an den Terrassen des Douro,im Schatten der Pinien, die Sprache Portugals.“

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