// Startseite // Buchkritik // 

Vom Bleiben und Bleiben Wollen

Norbert Scheuer: "Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte", C.H. Beck Verlag 2011. 101 Seiten.

Sendung vom 05.12.2011 im Deutschlandfunk, Moderation Hubert Winkels

http://www.deutschlandfunk.de/vom-bleiben-und-bleiben-wollen.700.de.html?dram:article_id=85332
Beitrag hören (Zitate gesprochen von Gerd Daaßen, DLF-Sprecherensemble)

 

Norbert Scheuer hat sich mit Romanen wie "Flußabwärts" und "Überm Rauschen" einen Namen gemacht. Seine ersten Literaturpreise aber gewann der gelernte Elektriker mit Gedichten. Mit dem Band "Bis ich dies alles liebte" kehrt er nun zur Lyrik zurück - und präsentiert erneut auch seine alten Reime.

Heimat ist der Ort, wo die Sehnsucht zu Hause ist. Kindheitsorte sind Sehnsuchtsinseln. Überall. Doch besonders auf dem Land. In der kleinen Welt zwischen Kirche und Gasthaus, Kuhweide und Zementwerk, Kirmes und Dorf-Supermarkt ist kein Platz für große Träume. Hier fährt das Fernweh in jedem Regionalzug mit.

"Alcatraz" lautet ein Titel in Norbert Scheuers Buch mit "Neuen Heimatgedichten". "Fortgehen" heißt ein anderes Gedicht, das vom Bleiben erzählt. Ums Bleiben geht es; genauer gesagt darum, bleiben zu wollen. Bis dahin ist es ein jahrzehntelanger Weg. "Bis ich dies alles liebte" ist Scheuers Band mit insgesamt 70 Gedichten überschrieben. In drei Gedichtzyklen beschreibt der studierte Techniker und Philosoph den Prozess seiner "langsamen Heimkehr" als dialektischen Dreisprung. Dem initialen Fluchtimpuls setzt er die Kindheitserinnerung entgegen. Erst in der Synthese dieser gegenläufigen Sehnsüchte mag die Rückkehr in die Heimat gelingen.

Scheuers poetische Dialektik beginnt mit einer Bestandsaufnahme. Dorfrand, Kiesgrube, Fronleichnam oder Frühjahrskälber heißen die Gedichte des ersten Zyklus. Am Anfang steht die wehmütige Tristesse. Norbert Scheuer findet dafür prosaisch-poetische Bilder. In Pfützen endende Traktorspuren wecken die Sehnsucht nach fernen Meerlandschaften. Eine als Viehtränke genutzte Emailbadewanne auf der Kuhweide wird zum Natur-Stillleben von melancholischer Poesie. Und sogar Bauer "Jupps Meinung" wird bei Scheuer zum Gedicht. Genauso wie die spröde Melancholie einer Kleinstadt, in der alle auf etwas warten, das niemals eintrifft.

"Birkenblätter schneien
vom Flussufer über den Parkplatz
Leute aus umliegenden Ortschaften
steigen aus Autos
holen Einkaufswagen
schieben zur Drehtür des Supermarktes
zum Getränkemarkt in der Lagerhalle
der ehemaligen Molkerei
Werbefläche am Gitterzaun vor der Bahnstrecke
wo der Fünfuhrzug zur Stadt fährt
hockt ein Mädchen
auf der Kühlerhaube eines alten Peugeot"

Lähmender Stillstand und bedrückende Enge lassen Zeit und Raum auf einen bewegungslosen Punkt zusammenschrumpfen. Manchmal glaub ich, so der lyrische Sprecher, von meiner Jugend bis jetzt sind's nur Sekunden.

"(...)
Wenn du dein Fernrohr umdrehst
erkennst du im Okular
weit entfernt
(...)
die Wirklichkeit am Rand einer Linie
die scheinbar weiterführt"

Durch bewusste Verkehrung der Perspektive, erst aus künstlicher Distanz, scheint Annäherung an Heimat wieder möglich. Wie aus der Erinnerung des Erwachsenen an die weit entfernte Kindheit. Denn Heimat sind auch die Geschichten, die Erwachsene Kindern erzählen. So zumindest stellt es sich im zweiten Gedichtzyklus dar. In der Kindheitserinnerung fallen Wirklichkeit und Erzählung noch nicht auseinander. Die Kindheitswelt ist durchwoben von Geschichten und Märchen. Kindern ist die Heimat noch eine unergründliche Welt voller Geheimnisse. Als Kind dachte ich, in jedem Regentropfen wohne eine Königin, so das erwachsene Ich. Und es erinnert sich: An Mütter, die Geheimnisse ins Jackenfutter nähen. An Bäurinnen wie aus mythischer Vorzeit, die bei der Feldarbeit vor dem Regen flüchten, sich an den Waldrand hocken und ihre Rockschöße über den Kopf ziehen. Und an märchenhafte Geschichten über Blaubeeren sammelnde Frauen:

"(...) die alten Frauen gehen im Sommer in die Kropeln
sie tragen einen Eimer für Waldbeeren
die bei uns Worbeln heißen
den ganzen Tag über hocken sie im Gebüsch
zupfen Worbeln von den Sträuchern
reden in einer Sprache die wir nicht verstehen
man sagt
dass sie - während sie hocken - Feuersalamander gebären
und die braunen Lurche"

Die "Geschichtengeister" gehen um in diesen Gedichten. Aus Märchen, Kindheitsfantasien und Dorflegenden entsteht das Bild der Heimat als archaischer Urzeitlandschaft voller Mythen und Geheimnisse. Über Geschichten und Erzählungen scheint eine Rückkehr zur Heimat wieder möglich.

Heimat ist der Mut, dort zu bleiben, wo man immer weg wollte. Aus der Einsicht, nirgendwo auf der Welt der eigenen Herkunft entfliehen zu können, kehrt das erwachsene Ich im dritten Gedichtzyklus endgültig in die Heimat zurück. In der Heimat, erlebt es jetzt, findet sich ein Echo von allem. Den Möwen über der Mülldeponie lauschend, glaubt der Zurückgekehrte am Meer zu stehen. Zufrieden mit der eigenen Bedeutungslosigkeit, fährt das gealterte lch hier täglich zur Arbeit und zieht unbeirrt seine Kreise zwischen Fluss und Bahndamm bis zur Gastwirtschaft und wieder zurück über den Parkplatz des Supermarktes. Die Züge Richtung Stadt lässt er ungerührt vorbeifahren.

"Fortgehen fängt damit an
dass ich mich zurücksehne

es ist das Andere
neben den Worten
woran ich nicht mehr glaube

überhaupt noch etwas zu wissen
ist schon genug
das Leben ist die Girtzenbergstraße
einmal hinauf ... einmal hinunter

der Tod ist nur eine falsche Bewegung
aus allem raus
dort ist es still
wie in einem Bienenstock im Winter"

Beinahe buddhistisch mutet die poetisch-meditative Selbstvergessenheit des mit seiner Heimat versöhnten Ichs an. Wenn man alles zusammennähme, vergäße man, was man behalten will, heißt es in einem Gedicht.

Norbert Scheuers "Bis ich dies alles liebte" ist ein poetischer Dreisprung zurück zur eigenen Herkunft: Kleinstadt-Tristesse und magischer Provinzialismus überlagern sich zu einer sehr diskreten Heimat-Poesie von mürbem Charme. Die Kunst liegt dabei im Übergang. Norbert Scheurers stille Gedanken-Verse fließen im grafisch versetzten Zeilen-Fluss wellenartig hinter- und ineinander. Überlagerungen und Übergänge schaffen eine sanft bewegte Wellenlandschaft von meditativer Ruhe. Entstanden sind Gedichte, die ihre Kraft aus der fließenden Bewegung und ihre Poesie aus der Kraft des Bleibens entwickeln.

|