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Evelyn Schlag: Yemen Café.

Evelyn Schlag: Yemen Café. Zsolnay Verlag 2016. 368 Seiten; gebunden.
Rezension vom 31.08.2016 im literaturhaus.at
www.literaturhaus.at/index.php


Vom Politischen im Privaten

 

Auch wer helfen will, kann sich schuldig machen. An diesem Konflikt droht Jonathan, die Hauptfigur von Evelyn Schlags neuem Roman "Yemen Café", zu zerbrechen. Für den österreichischen Mediziner im Jemen ist es ein doppelter Konflikt. Denn es mischen sich darin für ihn Politisches und Privates. Dr. Jonathan Schmidt ist Chefarzt der Chirurgie am Schweizer Haus in Sana'a, der Hauptstadt des Jemen.


Nichts ist unpolitisch im Jahr 2010 in einer jemenitischen Diktatur, in der der seit Jahrzehnten amtierende Präsident Saleh mit aller Gewalt gegen schiitische Huthi-Rebellen um seine Macht kämpft. Der Bürgerkrieg unter Beteiligung der saudi-arabischen Armee und US-amerikanischer Drohnen hat im Vorjahr seinen bisherigen Höhepunkt erreicht. Nichts ist unpolitisch in einem Land, dessen Naturschönheit den allgegenwärtigen Krieg und Terror nicht vergessen machen kann. Auch nicht der Zauber der Zuckerbäckerarchitektur Sana'as mit ihrer historischen Altstadt und dem einzigartigen orientalischen Bazar. Nichts ist unpolitisch, noch nicht einmal die Medizin.

 

Denn das von einem Schweizer Unternehmen gegründete Krankenhaus, in dem vor allem europäische Ärzte wie der Österreicher Dr. Schmidt arbeiten, behandelt vornehmlich privilegierte Patienten aus Regierungskreisen, Ausländer und Botschaftsangehörige. Genau das ist es, was ihm Delphine, mit der Jonathan zuvor in einem äthiopischen Buschkrankenhaus gearbeitet hat, vorwerfen würde. Das zumindest meint Jonathan in seinen imaginären Gesprächen mit seiner letzten Geliebten herauszuhören. Kann er sich vor diesem inneren Konflikt wirklich schützen, indem er sich hinter seinen medizinischen Eid zurückzieht? Sollte er nicht doch zu seiner Sehnsuchtsfrau Delphine zurückkehren und zu ihrem gelebten Ideal, vor allem denen zu helfen, die sich medizinische Hilfe nicht leisten können?

 

Eins ist unbestreitbar: Mit seiner derzeitigen Arbeit im überwiegend vom jemenitischen Gesundheitsministerium finanzierten Schweizer Haus stützt er eine Regierung, die das eigene Land und seine Menschen in Krieg und Elend gestürzt hat. Jonathan wird seine Selbstzweifel nicht los. Obwohl man im Krankenhaus großen Wert darauf legt, politikfreie Zone zu bleiben. Auch der Flirt mit Susanna, der Frau seines neuen deutschen Kollegen Christian Malte, kann ihn davon nicht ablenken, sondern bringt ihn zusätzlich in Loyalitätskonflikte. Erst als er auf einer Abendveranstaltung Katie Lindgren kennenlernt, scheint für den Junggesellen plötzlich eine neue private Zukunft jenseits aller politischen Unruhen vorstellbar. Bis ihn die für "Human Rights Watch" tätige, humanitär engagierte Katie unmittelbar vor ihrer Heimreise nach New York vor die politische "Gretchenfrage" stellt. Spätestens jetzt ist klar: Politisches und Privates sind in einem Land wie dem Jemen untrennbar.

 

Evelyn Schlags Roman "Yemen Café" macht das auf unmissverständliche Weise deutlich. Auf Basis fundierter politischer Rahmendaten, die sie an Einzelschicksalen festmacht. Da ist der jemenitische Dialysepfleger Hassan, der aus Angst um seine Familie sein Medizinstudium abgebrochen hat. Er lebt in dauernder Sorge um seinen verschwundenen Bruder Khalid, der als vermeintlicher Rebell verhaftet worden sein soll. Da ist Hassans ehemaliger Münchener Studienkollege Abdul, der sich nach dem gewaltsamen Tod seiner Eltern und der Verhaftung der Brüder radikalisiert und sich im Jemen den Rebellen anschließt. Da ist Jonathans Chauffeur Ali, der – plötzlich regierungstreu – seinen Sohn unbedingt zum Militär schicken will; und Dr. Schmidt dafür dessen Mathematikstunden finanzieren lässt. Da ist die jemenitische Anästhesistin, deren Gesicht Jonathan gerne einmal ohne Schleier sehen würde. Da ist die allgegenwärtige Angst von Jemeniten sowie Ausländern vor dem täglichen Terror. Die Wahl eines bestimmten Restaurants kann im Zweifel zu einer Entscheidung über Leben und Tod werden.

 

Es fällt schwer, sich als europäischer Leser in diese Welt hineinzuversetzen. Obwohl Lokalnachrichten aus dem Jemen immer auch Weltnachrichten sind. Genau das versucht Evelyn Schlag uns näherzubringen. Anhand von persönlichen Lebensgeschichten, in denen sich Politisches im Privaten spiegelt und umgekehrt. Evelyn Schlag erzählt ohne zu verurteilen. Sie versucht ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass keiner sich der Verantwortung entziehen kann. Auch wir als Leser nicht. Eine Lösung bietet Evelyn Schlag mit ihrem Roman nicht – aber wer könnte das schon? Sie fächert zwar geschickt die politischen Fakten auf und verknüpft sie kunstvoll mit individuellen Biografien. Die verworrene politische Lage im Jemen bleibt trotzdem nur schwer überschaubar. Das macht das Lesen von „Yemen Café“ zu einer doppelten Herausforderung.

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