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Spiegelfrau.

Cornelia Schleime: Weit fort. Hoffmann und Campe 2008. 112 Seiten.
Rheinischer Merkur (Literatur), Nr. 11, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 13. März 2008, S. 2.

 

LIEBESROMAN. Die Malerin Cornelia Schleime überzeugt mit einem furiosen Debüt. In "Weit fort" verarbeitet sie ihre Beziehung zu einem Autor, der sie als Stasi-Spitzel aushorchte.


„Kann man Liebe mit einem Zollstock messen?“ fragt sich Clara. Wenn ja, dann dürfte ihre gerade erst ein paar Zentimeter lang sein. In drei Wochen schreiben sie sich achtzig Mails, bis sie sich das erste Mal sehen. Doch ist die Liebe weniger, wenn sie kurz ist? Bei ihrer Begegnung jedenfalls ist alles sofort „ausgebreitet in der Ewigkeit eines Moments“, so Clara. Als er aber nach wenigen gemeinsamen Tagen wortlos wieder verschwindet, wird sie ins Uferlose einer nimmer endenden Vergangenheit hinausgeschossen. „Die Gegenwart weit fort“, resümmiert sie, nachdem sie mit unguten Vermutungen nach seiner Vorgeschichte forscht. Die alles ahnende Erzählerin wusste das von Beginn an.

 

„Weit fort“ heißt der Debütroman der bildenden Künstlerin Cornelia Schleime. Die Hauptfigur Clara Formella weist deutliche Parallelen zu ihrer eigenen Biografie auf. Sie wächst in Ostberlin auf und studiert in Dresden Malerei und Grafik. Schon kurz nach ihrem Diplom erhält sie Ausstellungsverbot. Sie stellt fünf Ausreiseanträge, darf aber erst 1984 in den Westen. Ohne ein Bild, nur mit einem Koffer, einem Federbett und ihrem Sohn an der Hand, fängt sie noch einmal völlig neu an. Innerhalb weniger Jahren etabliert sie sich in der Kunstszene. Auf dem Land im Brandenburgischen und in Berlin richtet sie sich Ateliers ein. Erst nach dem Mauerfall erfährt sie aus den Stasi-Akten von der Bespitzelung eines befreundeten Schriftstellers. Sie entwickelt eine Filmdokumentation über den unschwer als Sascha Anderson zu erkennenden IM.

 

Ihrem Brieffreund zeigt sie dieses Video, als er sie zum zweiten Mal, diesmal in ihrer Berliner Wohnung, besucht. Kurz darauf verschwindet Ludwig ohne Begründung, reagiert nicht auf ihre Mails, geht nicht mehr ans Telefon. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie von seinem Lebenslauf nur wenig weiß. Aufgewachsen ist er im Hessenwinkel, einem als Klein-Venedig bekannten Nobelviertel Ostberlins; das hatte er ihr erzählt. Die großmütterliche Villa seiner Kindheit am Dämmeritzsee suchen sie sogar einmal gemeinsam auf. Sofort nach dem Mauerfall musste Ludwig in den Westen gegangen sein, rekonstruiert Clara. Denn hier beginnt die zweite Biografie des Journalisten und TV-Wettermanns Ludwig Thon. Das hatte sie schnell herausgegoogelt, nachdem sie beim Fernsehen im Wetterkanal eines lokalen Senders in der Nähe von Regensburg ihren Mailkontakt aus der Internet-Partnerbörse erkannt hatte. Aber was war in der Zeit der DDR vor 1990? Clara hat einen bösen Verdacht. Aber ihre Nachforschungen in den Stasi-Akten bleiben ergebnislos.

 

Ludwigs Verschwinden wirft Clara auf sich selbst und tief in die Vergangenheit zurück. Nur ein einziges Bild gelingt ihr während dieser Zeit des Stillstands: Eine Frau, den langen Zopf um die Augen gelegt, küsst ihr eigenes Spiegelbild. Wer ist diese „blinde Kuh“, wie Clara sie nennt? Sie selbst, das Alter Ego der Autorin, deren Biografie sie spiegelt? Cornelia Schleime treibt die Spiegelung auf die Spitze: Auf ihrer Homepage stellt ein Gemälde mit dem Titel „Trugschluss“ genau diese Szene dar. Im Bildhintergrund ein riesiges männliches Auge; die Iris so groß wie der Kopf der selbstblinden Frau mit nacktem Busen. Das anonyme Männerauge steht für Aggression. Erotischer Voyeurismus und totale Überwachung, Privates und Politisches mischen sich darin. „Wenn meine Augen nur Füße gehabt hätten, um wegzurennen“, hatte Clara schon bei ihrem ersten Augenkontakt mit Ludwig gedacht.

 

Bilder wie diese sind typisch für Cornelia Schleimes Erzählstil. Es sind Bilder, wie sie sonst nur Träumen oder Phantasien von Kindern entspringen. Sie schreibt in einfachen, kurzen, aber eigenwilligen Sätzen; mal federleicht, mal seelenschwer. Die Autorin treibt ihr Spiel mit dem, was ist und sein könnte, verbindet Claras Träume und Bilder mit ihren erotischen Sehnsüchten und Kindheits-Ängsten. Unverwechselbar durch die Poesie des wilden, noch nicht reglementierten Kinderblicks – denn deren Augen ohne Vergangenheit sehen klarer. Hier und da, nah und weit, Ich und Welt sind noch nicht getrennt. In der künstlerisch kindlichen Wahrnehmung wachsen Clara im Traum Äste aus ihrer Fußsohle. Und Wolken werden zur Bettdecke, die von Regensburg bis ins Brandenburgische reichen. Clara, „die selbst am liebsten in ihrem Kindsein ist. Sich weigert, eine andere Perspektive anzunehmen. Nicht, dass es ihr nicht gelingt, aber sie mag Sätze, wie nur Kinder sie äußern. Hier bin ich, das ist, was ich will, und das ist, was ich nicht will.“ Am Schluss legt Clara ihre Finger unter weißes Papier und wartet darauf, dass es aufhört. Ihre Geschichte hat kein Ende.

 

Cornelia Schleime legt sich nicht fest: nicht auf einen Romanschluss, nicht auf eine künstlerische Ausdrucksform, nicht auf einen Stil. Und das ist gut so, denn sie ist ein Multitalent. Hoffentlich greift sie noch oft statt zum Pinsel auch zur Schreibfeder. Denn so ungewöhnlich, wie sie malt, fotografiert und filmt, schreibt sie auch.

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