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Heimkehr als Utopie

Bernhard Schlink: Die Heimkehr. Diogenes Verlag, Zürich 2006. Gebunden, 375 Seiten.

Sendung vom 09.04.2006 im Deutschlandfunk / Buch der Woche

http://www.deutschlandfunk.de/heimkehr-als-utopie.700.de.html?dram:article_id=82670

Beitrag hören (Text gesprochen von Kerstin Fischer, Zitate gesprochen von Josef Tratnik)
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Die Odyssee, älteste Heimkehrer-Geschichte der Menschheit, ist ein Mythos. Aber was, wenn die Geschichte von der Heimkehr selbst ein Mythos ist? Wie die zahllosen Heimkehrer-Geschichten aus dem Krieg? Nur wenige kamen wirklich nach Hause zurück. Auch Odysseus Rückkehr ist in Wahrheit nur eine trügerische Hoffnung.

Ein neuer Abschied folgt seiner beschwerlichen Heimkehr. Und wenn sich Teiresias Weissagung erfüllt, findet er fern seiner Heimat den Tod. "Die Heimkehr", so eine These in Bernhard Schlinks neuen gleichnamigen Roman, erweist sich als Illusion. Eine einleuchtende Schlussfolgerung der in Essays vertretenen Theorie des Autors von der "Heimat als Utopie". In "Die Heimkehr" geht es um die Dekonstruktion eines uralten Mythos.

Nur die Sehnsucht des Lesers sehe die Odyssee zielgerichtet und folgerichtig auf die Heimkehr zulaufen. Ohne die Sehnsucht zeige sich ein anderes Bild: Odysseus strebt nicht nach Hause, sondern verliebt sich zuerst bei der einen und dann bei der anderen Frau. Er kehrt heim nicht aus eigenem Entschluss, sondern auf den Ratschluss der Götter,(...) Odysseus kehrt nicht einmal wirklich heim; er muss alsbald wieder aufbrechen, (...) Überhaupt die Götter - (...) Alles sei im Fluss: Ziel und Sinn der Odyssee, Wahrheit und Lüge, Treue und Verrat.

Ein Mythos, ohne den wir allerdings keine Geschichten hätten. Geschichten wie die von Peter Debauer. Der Junge wächst vaterlos auf. Der Vater, im Zweiten Weltkrieg Soldat, kehrt nie zurück. Die Mutter schweigt darüber. Peters einziger väterlicher Bezugspunkt: die Großeltern in der Schweiz. Dort verbringt er ohne die Mutter seine Schulferien. Hier begegnet er auch der Heftreihe "Romane zur Freude und zur Unterhaltung". Die pensionierten Großeltern redigieren sie abends am Küchentisch. Die Korrekturbögen: praktisches Schmierpapier für den Enkel. Obwohl es ihm verboten wird, beginnt er eines Tages die Rückseiten zu lesen. Dabei stößt er auf das Fragment eines Heimkehrer-Romans aus dem Zweiten Weltkrieg. Erzählt wird die Heimkehr eines deutschen Soldaten aus Sibirien. Die abenteuerlichen Stationen seiner Irrfahrt und die Suche nach seiner Frau weisen deutliche Parallelen zu Homers Odyssee auf. Ähnlich auch seine Rückkehr. Wie die von Freiern belagerte Penelope trifft der Soldat seine Frau zu Hause mit einem anderen Mann und zwei Töchtern in der Tür an. Und das Ende der Geschichte? Es fehlt. Die letzten Seiten des Romans nicht zu finden. Der offene Schluss lässt Peter Debauer auch später nicht los. Als Lektor eines Fachverlages macht sich der promovierte Jurist auf die Suche nach dem vollständigen Buch. Über den Autor hofft er an den Roman heranzukommen. Das Buch findet er nicht, dafür aber realistische Vorlagen. Die Recherche führt ihn über die im Roman identifizierte Kleinmeyerstraße 38 zu Frau Bindinger und ihren zwei Töchtern. Nach dem Tod der Mutter ist Barbara, eine der Töchter, zurück in die Familienwohnung gezogen. Peter Debauer spricht die Lehrerin an. Sie hilft ihm jedoch nicht weiter. Das vorläufige Ende der Suche nach dem Romanschluss ist der Beginn einer neuen Liebe. Aber die Beziehung hält nur kurz, denn Barbara ist verheiratet. Eines Tages klingelt der im Sudan verschollen geglaubte Ehemann an ihrer Wohnungstür. Ein zynisches Abbild der Heimkehr-Szene aus dem Roman. Peter lässt das Ende nicht offen. Er gibt Barbara auf und zieht sich zurück. Ein wiederum nur vorläufiger Schluss. Peter flieht in die Arbeit und - wieder spiegelt sich der Heimkehrer-Roman - in seine ganz persönliche Odyssee. Eine Journalistin erscheint ihm nach einer Affäre als Kikonin und die studentische Hilfskraft Bettina wird für ihn zur Lotophagin. Die Irrfahrt der Heimkehr wird für ihn zur Obsession: Er beginnt erneut, nach dem Romanautor zu forschen. Mit Erfolg: Es ist Volker Vonlanden. Vonlanden ist auch für zahllose nationalsozialistische Propaganda-Artikel verantwortlich. Er schreibt für das Goebbels-Blatt "Das Reich" und entwickelt die Idee der "eisernen Regel". Einer Argumentationskette, mit der er die Unrechts-Taten des Dritten Reichs rechtsphilosophisch zu untermauern sucht:

Die Goldene Regel verbietet in verschiedenen Formulierungen, dem anderen anzutun, was man selbst nicht erleiden will. (...) Das Recht hat seinen Grund nicht in dieser goldenen, sondern in einer eisernen Regel. Was du bereit bist, dir zuzumuten, das hast du auch anderen zuzufügen das Recht. (...) Wem du dich auszusetzen bereit bist, dem hast du auch andere auszusetzen das Recht, was du dir abverlangst, hast du das Recht, auch anderen abzuverlangen usw. (...) Wo ich den Tod gewärtige, habe ich auch das Recht zu töten. Ich gewärtige den Tod, wo ich den Kampf auf Tod und Leben annehme, gleichgültig, ob er erklärt wird und wer ihn erklärt. Die Juden greifen uns nicht an? Sie wollen in Ruhe ihre Geschäfte machen, ihren Schacher und Wucher treiben? (...) Das kann sie nicht schützen. Deutschland hat den Kampf auf Leben und Tod mit ihnen angenommen.

Die Spuren Volker Vonlandens führen nach Schlesien in die Stadt Breslau. Dort, wo sich auch Peters Mutter während des Krieges aufgehalten und den Vater kennen gelernt hat. Nur einer von den sich häufenden seltsamen Zufällen. Als die Mauer fällt, zieht es Peter nach Berlin. Dort erfährt er noch mehr über den Autor der "eisernen Regel". Vonlanden wechselt nach dem Krieg seine Identität. Er erfindet eine jüdische Biografie und nennt sich Walter Scholler. Scholler schreibt jetzt für ein kommunistisches Berliner Propagadanda-Blatt. Auf dem Rückflug nach Westdeutschland wird Peter Debauer von einer lähmenden existenziellen Müdigkeit erfasst. Genau an diesem Tiefpunkt begegnet ihm seine verlorene Liebe. Barbara, nach wenigen gemeinsamen Jahren in New York von ihrem amerikanischen Ehemann getrennt, lebt wieder in der alten Wohnung. Peter spricht sie an, als sei keine Zeit vergangen. Gleich am nächsten Wochenende macht er ihr einen Heiratsantrag. Aber der Standesbeamte stellt bei der Überprüfung seines Familienbuchs Unstimmigkeiten fest. Die Papiere sind gefälscht, die Eheschließung seiner Eltern ist erfunden. Sein wirklicher Name ist Peter Graf. Aber genau in dem Moment, wo er seinen Namen verliert - wie Odysseus, sich vor dem Kyklopen Polyphem rettend, zum "Niemand" wird - kommt er seiner wahren Herkunft auf die Spur. Frei nach Adornos These vom modernen Menschen, der wie Odysseus fähig sein müsse, seine Identität aufzugeben um sie zu erhalten, findet er jetzt zu seinen Wurzeln. Im Verlag wird ihm zur Sichtung ein Manuskript mit dem Titel "The Odyssey of Law" vorgelegt. Das Papier ist von einem amerikanischen Jura-Professor, ein namhafter Vertreter dekonstruktivistischer Rechtstheorien. Sein Name: John de Baur. Peter Debauer ist paralysiert:

"Ich glaube, er ist mein Vater. Er hat, als er nach Amerika kam, seinen Namen von Debauer in de Baur verändert. Oder er hat sich schon hier den entsprechenden Pass besorgt. Er war gut in solchen Sachen; für meine Mutter hat er in Breslau einen Schweizer Pass beschafft, ich weiß nicht, ob vom Gauleiter, vom Reichssicherheitshauptamt oder für Geld. Eine Weile hieß er Vonlanden, eine Weile Scholler. Vor dem Krieg hat er für die Nazis geschrieben, nach dem Krieg für die Kommunisten. Von ihm stammt auch der Heftroman, ohne den wir uns nicht kennen gelernt hätten." "Hat deine Mutter nicht gesagt, dein Vater sei tot? War sie nicht sogar dabei?" "Sie hat sich geirrt, oder sie hat mich belogen - es wäre nicht das erste Mal."

Der Fall ist klar: Der Autor der Odyssee des Rechts ist Peters Vater Johann Debauer. Und die verschiedenen Handlungsfäden fügen sich mit einem Mal auf beinahe magische Weise zusammen. Die Suche nach dem Ende des Heimkehrer-Romans war also in Wirklichkeit von Anfang an eine unbewusste Vatersuche, die Suche nach dem eigenen Ursprung. Ein langer Weg der Identitätsfindung, Peters ganz persönliche Odyssee. Aber wie der Romanschluss ist auch das Ende seiner eigenen Heimkehrer-Geschichte noch offen. Um sie abzuschließen, muss er die in der Partnerschaft mit Barbara gerade erst wiedergefundene Heimat erneut aufgeben und nach New York reisen. Dort stellt er sich seinem Vater vor, besucht seine Vorlesungen, ohne jedoch seine Herkunft preiszugeben. So irritierend die geringe Ähnlichkeit mit dem Vater, so verstörend sind die rechtsphilosophischen Theorien des Professors.

Mit der Odyssee fing wie de Baurs Buch auch seine Vorlesung an. Aber es ging um sie nicht als die Urform aller Heimkehrergeschichten (...). Das Verständnis der Odyssee als Urform aller Heimkehrergeschichten sollte gerade dekonstruiert werden. (...) Dann schlug de Baur einen großen Bogen: Auch bei der Odyssee des Rechts sei alles im Fluss: die Ziele, Auf- und Abschwünge des Rechts, was gut am Recht sei und was böse, was rational und was irrational, was Wahrheit und was Lüge. Das einzig Bleibende der Odyssee des Rechts seien die abstrakten Größen Recht und Unrecht - und dass es ständig Entscheidungen zu treffen gilt.

Das Ereignis ist demnach die Deutung, die wir ihm geben. Eine Deutung, die sich im Laufe der Interpretationen der Geschichte ständig wandelt. Die grundlegende Erkenntnis des Dekonstruktivismus. Im dekonstruktivistischen Bewusstsein gibt es zu jedem Ereignis eine Vielzahl gleichzeitiger, oft sogar sich widersprechender Perspektiven. Die Anwendung der dekonstruktivistischen Praxis auf das Recht kann auf konstruktive Weise die Grenzen der Begriffe "Gerechtigkeit", "Gesetz", "Recht" wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Denn, so Professor John de Baur, wie die Begriffe "Gut" und "Böse" unterliegen auch "Recht" und "Unrecht" dem unablässigen historischen Wandel. Konsequent weitergedacht, stellt das Dekonstruktionsparadigma aber jede juristische Praxis grundsätzlich in Frage. Für John de Baur heißt das: Wenn Werte, Normen und Vorschriften vielfältig interpretierbar sind, sind auch Gut und Böse prinzipiell gleichberechtigt und Recht und Unrecht variabel auslegbar. Deshalb kann es für ihn auch legitim sein, Böses im Dienste des Guten einzusetzen. Die Bewertung der getroffenen Entscheidung hänge nicht von der Gesinnung ab, sondern von der Bereitschaft, sich selbst dem Bösen auszusetzen. Womit der Professor des Rechts wieder unmittelbar an die "eiserne Regel" seiner nationalsozialistischen Propagandazeit anknüpft. Eine intellektuell scharfe Gedankenkonstruktion, eine ebenso kühne wie brisante Argumentation - das wird Peter von Vortrag zu Vortrag immer deutlicher.

Was ich bei de Baur gelesen und in seiner Vorlesung und in seinem Seminar gehört hatte, fügte sich zusammen: Was wir für Wirklichkeit halten, sind nur Texte, und was wir für Texte halten, nur Interpretationen. Von der Wirklichkeit und den Texten bleibt nur, was wir daraus machen. In der Geschichte gibt es kein Ziel, keinen Fortschritt (...). Wir können sie interpretieren, als ob sie ein Ziel hätte. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, denn wir müssen ständig so tun, als ob - als ob Wirklichkeit mehr wäre als Text, als ob im Text der Autor zu uns spräche, als ob es das Gute und das Böse, Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge gäbe und als ob die Institutionen des Rechts funktionieren könnten. (...) Unsere Wahrheit, die uns unsere Entscheidung treffen lässt, erfahren wir in der existenziellen, der extremen, der Ausnahmesituation.

Für den Dekonstruktivismus ist die Wirklichkeit die Schrift. Nichts ist außerhalb des Textes, auch den Verfasser gibt es nicht. Trennt man aber den Text vom Autor, so ist der Autor auch nicht für den Text verantwortlich, sondern der Leser. Auf Recht und Unrecht übertragen, heißt das für de Baur: Nicht die Urheber eines Unrechts, die Täter, sind verantwortlich, sondern diejenigen, welche die Taten interpretieren und richten. Eine brillante Umkehrung und Verschiebung der gesamten Rechtslogik. Und für de Baur die einzige Möglichkeit, sich der Verantwortung seiner biografischen Irrfahrt zu entziehen. Denn jeder, so der Jurist, habe in Wahrheit Freude am Bösen. Nur keiner sei bereit, dem Bösen ins Auge zu sehen. Die Lust zu hassen, kämpfen und töten, die düsteren Rituale des Faschismus und Kommunismus gehören, so seine Theorie, nicht der Vergangenheit an. Aus der Gegenwart verdrängt, seien sie auch heute noch in jedem Menschen präsent. Aber die Vermittlung dieser heiklen Theorie reicht John de Baur noch nicht. Er will die Präsenz des Bösen für seine Studenten erfahrbar machen. Ausgewählte Schüler lädt er zu einem Seminar in ein Hotel auf dem Land ein. Unter ihnen Peter Debauer. Kein Teilnehmer weiß, was sie erwartet. Erst nach und nach wird ihnen klar, es handelt sich um ein menschenunwürdiges Experiment. Eine pseudowissenschaftliche Versuchsanordnung in der Nachfolge des umstrittenen Milgram-Versuchs, bei dem in den sechziger Jahren mit fingierten "Elektroschocks" die Gehorsamsbereitschaft gegenüber einer Autorität getestet wurde. De Baur geht es um etwas anderes:

De Baur wollte uns nicht erforschen, sondern formen. Das Seminar sollte uns lehren, dem Bösen ins Auge zu sehen, dem Bösen in den anderen und in uns selbst. Alle kamen in der einen Woche dran, alle sollten erfahren, dass sie ihre guten Prinzipien verleugnen, verraten, verkaufen und mit Entschiedenheit böse handeln. Wer bisher noch nicht gefallen war, würde noch fallen, vielleicht mit Hilfe eines Schubses, den de Baur als den richtigen bestimmen würde, weil die Videogeräte ihm die entsprechende Schwäche gezeigt hatten. Ich hatte die anderen beim Losen betrogen und mit der Entschuldigung mich selbst verraten. Was sollte ich daraus lernen? Dass ich fähig war, böse zu handeln? Dass ich diese Fähigkeit nutzen konnte?

Peter Debauer entzieht sich schließlich dem Experiment. Und rechnet mit den Theorien seines Vaters ab. Allerdings nur in einem fiktiven Streitgespräch, aus dem letztlich keiner als Sieger hervorgeht. Peter gibt auf. Ohne den Vater mit seiner Kritik und Herkunft zu konfrontieren, kehrt er zurück. Sein letzter Entschluss: Er verfasst einen Enthüllungsartikel über de Baur und beauftragt einen Rechtsanwalt, das Manuskript der New York Times anzubieten. Beim Rückflug quält ihn die Angst, Barbara habe in der Zwischenzeit einen anderen Mann. Aber die Sorge erweist sich als unberechtigt. Die Heimkehr gelingt. Trotzdem ist am Ende die Enttäuschung über die unvollendete Vatersuche und die Ernüchterung über die nicht erreichbare Gerechtigkeit größer als das Glück über die wiedergefundene Liebe. Peters Artikel bleibt unveröffentlicht und die Taten seines Vaters ungesühnt. Weder Heimkehr noch Vatersuche, weder Identitätsfindung noch die Suche nach Recht und Gerechtigkeit werden je ganz abgeschlossen sein. Denn letzten Endes ist Heimkehr unmöglich. Aber dennoch bleibt Peter die:

Sehnsucht nach dem Odysseus, der von Wenzel Strapinski die Listen und Lügen des Hochstaplers gelernt hat, ungeduldig ins Leben aufgebrochen ist, Abenteuer gesucht und bestanden hat, mit Charme meine Mutter gewonnen, mit Lust Romane zur Freude und zur guten Unterhaltung geschrieben und mit spielerischer Leichtigkeit Theorien erfunden hat. Aber ich weiß, dass es nicht die Sehnsucht nach Johann Debauer oder nach John de Baur ist. Es ist nur die Sehnsucht nach einem Bild, das ich mir von meinem Vater gemacht und an das ich mein Herz gehängt habe.

Ein beinahe versöhnlicher Schluss. Ein Ende, das angesichts der schmutzigen väterlichen Biografie, seiner fragwürdigen rechtsphilosophischen Extremtheorien und menschenunwürdigen Versuche fast schon unangenehm berührt. Vielleicht auch deshalb, weil das hier in hohem Ton angerufene Heimweh in der Erzählung für den Leser tatsächlich so wenig spürbar wird. Bis auf die sinnlich stärkeren Anfangs-Passagen im Haus der Großeltern vermittelt sich die Sehnsucht nicht. Die kunstvoll ineinander verschränkten, ausgeklügelt konstruierten Heimkehrer-Geschichten fordern zwar intellektuell heraus, lassen aber letztendlich kalt. Die Darstellung der Schicksale hat oft eher den Charme einer juristischen Fallstudie, die Diskussionen über Recht und Gerechtigkeit, Gut und Böse den Reiz eines Jura-Seminars. Auch die Dynamik der Erzählung klingt in der Kürze der Zusammenfassung besser, als sie sich tatsächlich auf fast dreihundertachtzig Seiten liest. Trotz der eigentlich kühnen Konstruktion kann die Geschichte über viele zu lange Passagen hinweg die Spannung nicht halten. In sich stimmige Handlungsstränge verlieren durch ermüdende Exkurse über Recht ihre Dramatik. Szenen und Figuren wirken, unter der Last des übermächtigen theoretischen Konzepts erdrückt, oft genug wie Requisiten einer rechtswissenschaftlichen Versuchsanordnung. Bernhard Schlink wollte einen Anti-Heimkehrer-Roman schreiben, aber es ist ihm nicht gelungen, die Melancholie der Fremde oder die Sehnsucht nach Heimat lebendig werden zu lassen. Bei Schlink sind die Emotionen unter historischen Bezügen, juristischen Diskursen und philosophischen Überlegungen nachgerade erstickt. Auch wenn er sich geschickt auf die Geschichte aller Geschichten, die Odyssee, bezieht. Statt erlebter innerer Konflikte und grundlegender Gefühle unserer Existenz, wie sie Homers jahrhundertealter Epos heute noch zu vermitteln vermag, konstruierte Szenarien. "Die Heimkehr" bleibt eine Geschichte, die nüchtern und distanziert von Heimkehr erzählt, ohne sie letztendlich erfahrbar zu machen.

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