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„Yes“, sage ich, „I would do everything for you.“

Jan Schomburg: Das Licht und die Geräusche. Roman. DTV Hardcover 2017. 256 Seiten.

Sendung vom 08.06.2017 im Deutschlandfunk, Büchermarkt, Moderation Hubert Winkels

http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2017/06/08/jan_schomburg_das_licht_und_die_geraeusche_dlf_20170608_1623_49b63654.mp3

Beitrag hören (Zitate gesprochen von Anja Gawlick vom DLF-Sprecherensemble)

 

Seine Drehbücher und Inszenierungen von Kinofilmen wie „Über uns das All“ und „Vergiss mein Ich“ sind mehrfach preisgekrönt: Jan Schomburg. Von 1996 bis 2001 studierte er Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel und Audiovisuelle Medien an der Kunsthochschule für Medien Köln. 2007 absolvierte Schomburg die Drehbuchwerkstatt München und erhielt im Folgejahr ein Stipendium der Warschauer „Andrzej Wajda Master School of Directing“. Gemeinsam mit Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader schrieb er 2016 das Drehbuch zum Film „Vor der Morgenröte“. Doch das Multi-Talent Jan Schomburg ist nicht nur Filmregisseur und Drehbuchautor, sondern auch Schriftsteller. „Das Licht und die Geräusche“ ist sein erster Roman.


Unser Denken bestimmt die Wirklichkeit, nicht umgekehrt. Wer Einfluss auf unsere Gedanken hat, entscheidet darüber, was wir sehen und wie wir es sehen. Ja, noch mehr: Wer unsere Sicht auf die Welt bestimmt, hat Macht über unser Selbst. Diese Erkenntnis ist genauso einfach wie erschreckend. Findet Johanna. Als sie das erste Mal feststellt, dass man sich nicht zwingen kann, an etwas nicht zu denken.

 

„Versuch mal, durch diese Tür zu gehen und nicht an einen rosa Elefanten zu denken“, hat meine Mutter früher gerne zu mir gesagt, und als Kind hat es mich halb wahnsinnig gemacht, dass mir das nie gelungen ist, obwohl ich es oft versucht und einmal sogar behauptet habe, es wäre mir gelungen.

 

Johanna hat ein besonderes Gespür für Manipulation. Vielleicht ist sie deshalb so erschrocken, als sie auf einer Klassenfahrt nach Barcelona im Schlafraum der beiden Einzelgänger Marcel und Timo eine unheimliche Entdeckung macht: Timo schläft auf dem nackten Boden. Weil Marcel ihm das befohlen hat, behauptet Timo, als die anderen Schüler ihn zur Rede stellen. Sein einziger Freund habe ihn immer wieder erniedrigt. Die Gruppe ist entsetzt. Die jungen Erwachsenen beschließen, das selbst zu regeln. Es ist Boris Idee, Marcel zu „ächten“, ab jetzt nicht mehr mit ihm zu reden. Johanna soll es ihm sagen. Doch Marcel zeigt sich völlig unbeeindruckt. Und behauptet sogar, er habe auf Timos Wunsch gehandelt. Und überhaupt: Die anderen Schüler seien Schuld. Hätten sie Timo doch nie Beachtung geschenkt. Soll sie ihm glauben? Johanna zweifelt. Auch, als Marcel sich Wochen später vor der gesamten Klasse entschuldigt, hält sie seine Reue nur für gespielt. Für Boris und die anderen ist die Welt damit wieder in Ordnung. Nur Johanna fragt sich immer noch, welche Version der Wirklichkeit entspricht. Und ob Wahrheit nicht vielleicht sogar grundsätzlich eine Frage der Anschauung ist. Reine Selbst-Suggestion; egal, ob negativ, oder positiv. Wie bei dem Obdachlosen, der sie bittet, ihm nur diesen einzigen Satz zu sagen.

 

„Yes“, sage ich, „I would do everything for you.“ (…)
Und ich frage mich, wie man es wohl schaffen kann, so glücklich zu sein über einen Satz, von dem man weiß, dass er nicht stimmt; dass die andere Person ihn nur gesagt hat, weil man sie darum gebeten hat.

 

Genau das ist es, was Boris an seiner besten Freundin Johanna besonders mag: dass sie Dinge immer wieder in Frage stellt und aus völlig neuen Blickwinkeln betrachtet. Johanna dagegen liebt Boris dafür, dass er sie in den unpassendsten Situationen mit völlig abwegigen Themen überrascht. Und damit ihre Sicht auf die Situation verändert. Eigentlich wären sie ein gutes Paar. Und eigentlich ist nur ein verhinderter Kuss beim gemeinsamen Zelten in Dänemark Schuld, dass sie nicht zusammen sind. Abgesehen von Ana-Clara. Boris‘ portugiesischer Freundin. Die Johanna so wenig mag, dass sie Sorge hat, allein deshalb Boris nicht mehr lieben zu können.
Doch als Boris eines Tages spurlos verschwindet und sein Abschiedsbrief aus Island das Schlimmste befürchten lässt, machen sich die beiden jungen Frauen gemeinsam auf die Suche nach dem Freund. Und kommen sich dabei näher. Ungewöhnlich nah. Sie küssen sich und …

 

Dann drängen sich unsere Körper aneinander, und ich sehe diese ineinander verschlungenen Körper plötzlich quasi aus Boris‘ Augen von der Decke, und dann kommt es mir so vor, als würde ich von immer weiter oben schauen. Die Körper werden immer kleiner, ich kann das Haus sehen, in dem sich unser Zimmer befindet, und dann ganz Island und schließlich auch die anderen Kontinente und dann die ganze Erde. Als ich ein Kind war, habe ich dieses Gefühl immer „groß und klein“ genannt.

 

Als wäre durch den Kuss zwischen Johanna und Ana-Clara ein Zauberbann gebrochen, als hätte Johanna den verhinderten Kuss mit Boris damit einlösen können: Von einem Moment auf den anderen hat sich nicht nur ihre Sicht auf die Wirklichkeit verändert, sondern die Wirklichkeit selbst. Und tatsächlich findet der Schrecken völlig unerwartet ein Happy End. Oder scheint es nur so?

 

Um Wahrnehmung und Wirklichkeit und ihre Differenz geht es in Jan Schomburgs Debütroman „Das Licht und die Geräusche“. Um die Macht von Suggestion und Manipulation. Und um die Rolle, die die Sprache und soziale Gruppen dabei spielen.


Jan Schomburg ist gelernter Drehbuchschreiber und damit Profi in den Disziplinen Figurenentwicklung, Szenenaufbau und Dramaturgie. Er deutet durch Binnen-Erzählungen auf künftige Schicksalsschläge voraus. Setzt geschickt Schnitte und Rückblenden als Handlungsverzögerung ein, um Spannung zu erhöhen. Und lenkt mit Filmtricks wie Kamerafahrten gezielt die Wahrnehmung des Lesers. Als Film-Magier setzt Schomburg in seinem Roman-Debüt auf einen Zaubertrick mit doppeltem Boden. Mit dem der Autor seine Romanfiguren und seine Leser gleichzeitig aufs Glatteis führt. Merkwürdig ist nur: Schomburgs psychologisch scharf gezeichnete Figuren bleiben trotz allem ohne wirkliche emotionale Überzeugungskraft. Die handelnden Personen wirken wie ferngesteuerte Schachfiguren. Auch Johanna. Aber vielleicht soll ja genau dieser Eindruck entstehen. Und vielleicht ist es ja auch kein Zufall, dass der Leser erst am Ende der Geschichte den Namen der Ich-Erzählerin erfährt. Johanna hat ein Stück neuer Identität gewonnen.


Jan Schomburg nimmt in „Das Licht und die Geräusche“ die große Sensibilität junger Erwachsener in den Blick; besonders für die Unstimmigkeiten zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit. Er zeigt aber auch ihre hohe Anfälligkeit für Täuschungen. Jan Schomburgs „Das Licht und die Geräusche“ ist ein Entwicklungsroman, der gleichzeitig demonstriert, wovon er spricht. Genau das macht Schomburgs Debüt so verführerisch.

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