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Man muss vergessen, um sich erinnern zu können

Margit Schreiner: Das menschliche Gleichgewicht. Roman. Frankfurt am Main: Schöffling&Co, 2015. 240 Seiten.

Beitrag vom 02.09.2015 im literaturhaus.at

http://www.literaturhaus.at/index.php?id=10753

 

Auf den Rhythmus kommt es an. Wenn es ums Gleichgewicht geht. „Naturgemäß“, möchte man mit Thomas Bernhard hinzufügen. Ohne Rhythmus geht nichts in der Natur. Weder fliegen, schwimmen, noch laufen. Im Rhythmus von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe und Flut reguliert sich das natürliche Gleichgewicht selbst. Auch das von Pflanzen und Tieren. Und der Mensch? Stellt sich als einziger über die Natur. Stolpert mit wachsendem technischem Fortschritt immer häufiger über die eigene Vernunft. Und verliert mit zunehmender Geschwindigkeit immer nachhaltiger sein inneres Gleichgewicht.

 

„Das menschliche Gleichgewicht“ nennt Margit Schreiner ihre Parabel über den Versuch, diesen natürlichen Rhythmus wiederzufinden. Welche Zeit wäre hierfür geeigneter als jene, in der die Uhr für eine Weile stillzustehen scheint, nämlich die Ferien? Und welcher Ort wäre da passender als eine einsame unbewohnte Insel, fern jeder Zivilisation und Technik und frei von jeglichem Komfort? Eine Naturidylle ohne Strom und fließendes Wasser. Der Lebensrhythmus durch nichts bestimmt als durch Tag und Nacht, Sonne, Wind und Regen und das in Wellen herannahende und wieder fort strömende, ewig bewegte Meer. Auf einer kroatischen Insel haben zwei befreundete Ehepaare ihr Urlaubsparadies gefunden. Seit Jahren reisen die jetzt über Sechzigjährigen mit ihren Familien für vier Wochen hierher, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.

 

Doch diesmal kommt alles anders. Die mittlerweile erwachsenen Kinder sind zu Hause geblieben. Statt dessen taucht unerwartet kurz vor ihrer Abreise die Tochter einer befreundeten, nach Israel ausgewanderten deutsch-jüdischen Familie auf. Kurzentschlossen nehmen sie Sarah und ihren Hund Habibi mit nach Kroatien. Mit gemischten Gefühlen. Denn Sarahs Eltern wurden vor einigen Jahren von ihrem drogensüchtigen Halbbruder Daniel auf grausame Weise ermordet. Um dem unbewältigten Trauma zu entkommen, war Sarah freiwillig mehrfach in der geschlossenen Psychiatrie. Ihr leiblicher Bruder Noah beging Selbstmord.

 

Wie gut hat Sarah die traumatischen Ereignisse verarbeiten können? Und wie sollen sie alle mit Sarahs tragischer Vergangenheit umgehen – ausgerechnet hier im Ferienparadies? Das fragt sich die Schriftstellerin und Ich-Erzählerin besorgt. Eins ist schnell klar: Ausklammern geht nicht. Also nimmt sie sich Sarahs an und geht mit ihr gemeinsam paddeln. Als Antwort übergibt Sarah der älteren Freundin wortlos ihr Psychiatrie-Tagebuch. Ihre Einträge sind von schmerzhaft nüchterner Dramatik. An das eigentliche Gewaltverbrechen kann sie sich nicht erinnern. Doch jede einstige Gewissheit steht für sie seither in Frage. Um sie herum und in ihr selbst. Um sich überhaupt noch zu fühlen, fügt sie sich selbst Verletzungen zu.

 

„In jedem Paradies steckt immer schon der Schrecken.“ Und jeder hat seine eigenen. Dieses ernüchternde Fazit zieht die Erzählerin, als sich der Urlaub dem Ende zuneigt. Mit der Insel-Idylle ist es jedenfalls vorbei. Und nicht nur für dieses Mal. Aber sie hat von ihrer jungen Freundin während des Insel-Aufenthalts noch etwas anderes gelernt: Wahrheit gibt es nicht, wirklich ist nur die eigene Wahrnehmung. Das ist der Grund, warum Sarah sich schließlich dazu entschließt, ihre Trauma-Therapie in der Psychiatrie abzubrechen. Denn ihr ist klar geworden, dass auch ihre Erinnerung nur eine „Variation verschiedener Wahrheiten“ wäre. „Man muss vergessen, um sich erinnern zu können.“ Mit dieser paradoxen Erkenntnis radikalisiert Sarah Ingeborg Bachmanns Verse aus dem Gedicht „Tage in Weiß“ „In diesen Tagen schmerzt mich nicht, / daß ich vergessen kann / und mich erinnern muß.“

 

Die Erzählerin bewundert Sarahs Entscheidung, sich nicht erinnern zu wollen und statt dessen zu leben. Denn auch beim Vergessen und Erinnern kommt es letzten Endes auf den Rhythmus an. Und wovon hinge das menschliche Gleichgewicht schlußendlich mehr ab? Die Natur macht es uns vor: im ewigen Wechsel von Erinnern und Vergessen, Blühen und Vergehen, im Flügelschlag jedes einzelnen Vogels. Nicht zufällig spielen Vögel in Sarahs konkreter Zukunftsvision eine zentrale Rolle. Sie möchte als Zoologin mit Kranichen arbeiten. Es gibt wohl kaum ein vollendeteres Bild für das perfekte Gleichgewicht als den rhythmischen Flügelschlag von Zugvögeln wie dem Kranich. In Japan gilt er als Symbol des Glücks. Wir Menschen müssten wohl fliegen lernen, um dieses ganz zu begreifen.

 

Bei den Bewohnern der kroatischen Urlaubsinsel reicht es maximal zum Schwimmen oder Paddeln. Oder, der höchsten Kunst menschlichen Gleichgewichts, zum gelungenen menschlichen Miteinander. Margit Schreiners Roman „Das menschliche Gleichgewicht“ ist eine gleichnishafte Erzählung. Alles wird auf der Insel zum Bild für das innere Seelenpendel. Nicht jedes überzeugt. Manche fallen leider ihrer didaktischen Schwerkraft zum Opfer.

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