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Bernhard Seiter: Elf Finger.

Roman. Wien: Picus 2007. 125 S.; geb.;
Rezension vom 01.09.2007 im literaturhaus.at
www.literaturhaus.at/index.php

Wer tot ist, ist außer Gefahr

Existenzielle Verlassenheit strahlen die Figuren von Bernhard Seiters Roman "Elf Finger" aus. Allein sind sie nicht, aber einsam. Abgesondert wirken sie, vereinzelt. Auf dem menschenüberlaufenen U-Bahnhof einer namenlosen Großstadt kreuzen sich ihre Spuren wie Wildfährten im Schnee.

Für den kleinen Jakob ist es das erste Mal. Ohne seine Mutter will er U-Bahn fahren. Elf Stationen soll die Fahrt dauern. Lang, sehr lang findet Jakob. Zumal der Fünfjährige nur bis zehn zählen kann, sorgt sich seine Mutter. Und was dazu kommt: Der Zug ist menschenleer – so zumindest die letzte Handy-Nachricht der Babysitterin, nachdem sie Jakob in den Waggon gesetzt hat und bevor die Verbindung abbricht.

Schwenk zum Zielbahnhof, wo Jana voller Unruhe auf ihren Sohn wartet. Ihre Gedanken wandern: zurück an den Beginn des Tages zum Traum vom unsichtbaren Liebhaber; zurück zu Michael, dem letzten Mann nach ihrer Trennung von Jakobs Vater; zurück zu Bruno dem Ersten. Das erste Mal war schön; aber danach ohne ihn war es noch schöner.

Szenenwechsel: Mit sechs Wochen wird Kater Bruno von seiner Mutter getrennt. Vergeblich sucht er zu ihr zurück; er landet auf der Straße. Fräulein Slanar nimmt den streunenden Kater mit zu sich in die Wohnung und sperrt ihn dort ein. Aber Bruno entwischt; auch nach Fräulein Slanars Steckbrief-Suche in der U-Bahn-Station bleibt er verschwunden.

Schnitt: Die U-Bahn nimmt Fahrt auf. Erste Station: erster Finger. Jakob streckt bei jeder weiteren Station einen zusätzlichen Finger aus. Seine Hände braucht er aber bald schon zum Schaukampf gegen die im menschenleeren Waggon bedrohlich schwankenden Halteschlaufen. Und als der Zug sich mehr und mehr füllt, kommt Jakob komplett durcheinander. Achter Finger und Schluss. Die letzte Verbindung zur Mutter gekappt. Allein und verloren. Vielleicht hilft es, sich tot zu stellen? Denn "wer tot war, war außer Gefahr."

Zeitsprung – "Je länger er sich tot stellte, desto länger würde er leben", davon ist Paul überzeugt. Also tut er so, als gäbe es ihn nicht. Von einem Tag auf den anderen bleibt der Unternehmer der Firma fern, legt sich auf sein Bett in der fensterlosen Kammer und wartet. Bewegungslos horcht er, wie die Nachbarin stundenlang gegen sich selbst würfelt. Hätte Kater Bruno sich nicht in seine Wohnung verirrt, hätte Paul das zerschundene Tier nicht geschlachtet und sein Herz verspeist, wäre er wohl vor Schwäche gestorben. Nie hätte er sich mit Jakob auf der Marswiese getroffen, um dort täglich stundenlang den Ball hin- und herzukicken. Beide in der stupiden Wiederholung verloren, als würden sie sich dadurch mehr und mehr von den Dingen entfernen und im Spiel nur ihre jeweilige Verlassenheit miteinander teilen. Wann war der Moment gekommen, aufzuhören?

Cut und retardierendes Moment – "Das hat keinen Sinn. Das muss aufhören", entscheidet Jana eines Tages. Jetzt steht Paul, den Jakob und sie nur "Mann" nennen, neben ihr auf dem Bahnsteig. Soll sie ihn ansprechen? Ihr Handy klingelt: Jakobs älterer Bruder. Ein Zug läuft ein. Ohne Jakob. Noch einmal das Handy: Janas Freundin Tina. Der nächste Zug. Nervös steckt Jana das Telefon in die Tasche, die Verbindung bleibt bestehen. Finale – die Schlussszene wird zum Hörspiel: Das Einlaufen des Zuges, Janas Stöhnen, das Aufschlagen ihrer Absätze. Schweigen. Langes Schweigen. Erst Stunden, nachdem er zu Hause im Bett liegt, brüllt Jakob das erste Wort.

Filmisch mutet das Roman-Debüt von Bernhard Seiter an. Vor seiner ersten Erzählung "Solokabine", die 2002 erschien, war der Autor auch vor allem mit Drehbüchern wie "Schwarzfahrer" in Erscheinung getreten. Kein Wunder also, dass "Elf Finger" professionell dramaturgisch konzipiert und mit Schnitten, Schwenks, Rückblenden und Parallelhandlungen produktionsreif in Szene gesetzt ist. Die Ausgangssituation – Jakobs erste U-Bahn-Fahrt, der leere Zug, das abbrechende Handy – stellt sofort die nötige Grundspannung her. Neugier auf den Ausgang des Abenteuers zieht den Leser in die Geschichte hinein und hält ihn auch über schwache Passagen hinweg bei der Stange. Der Clou: Der Show-Down wird über Tinas Handy akustisch transportiert.

Überinterpretation mag es sein, eine konzeptionelle Linie herausfiltern zu wollen: Führt die dramatische Klammer vom "Ersten Mal" bis zum "Ersten Wort"? über "Entfernung statt Aneignung der Welt durch Wiederholung" hin zum "Wann ist der Moment, aufzuhören"? Auf den ersten Blick präsentiert sich Seiters 125 Seiten langes szenisches Stück, seine einfache Sprache und klare Struktur wie eine Kindergeschichte. Dazu passen auch die assoziativen Verknüpfungen zwischen den Szenenblöcken. Die Kinder-Passagen – wie Jakobs Wüten gegen fingierte Angreifer – sind zugleich aber auch die schwächsten Szenen. Den ersten Riss bekommt die harmlose Kindergeschichte im Laufe der Biografie des Straßenkaters Bruno; eines der am wenigsten gelungenen Kapitel. Eine an die Weihnachtsgeschichte angelehnte Beschreibung von Geburt und Lebenslauf Brunos lässt an die Passionsgeschichte denken. Spätestens mit Pauls Schlachtung und Verzehr des Straßenkaters wird die Kindergeschichte aber vollends zum Horrormärchen. Das Grusel-Element will auch nicht so ganz in die Geschichte passen; obwohl gerade die Szenen von Pauls Rückzug ins Bett seiner fensterlosen Kammer von beklemmender Authentizität und damit die stärksten des Buches sind.

Paul spiegelt die seelische Obdachlosigkeit, unter der alle Figuren leiden. Er selbst treibt seine Verlassenheit konsequent weiter, extrem weit, fast bis zum Ende: in die absolute Einsamkeit, beinahe bis zur Selbstaufgabe. Nicht zufällig ist der Roman Charles Bronson gewidmet, dem Inbegriff des zerknitterten, wortkargen, coolen und einsamen Helden. Männer wie er haben keine Angst vor dem Tod, denn: "Wer tot ist, ist außer Gefahr". Aber etwas anderes fehlt sowohl der Filmfigur Bronson wie dem Debüt von Bernhard Seiter: Humor. Schade, denn Idee und Dramaturgie von "Elf Finger" wären eine gute Basis für ein gelungenes Debüt.

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