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Ein Halt für Deine Füße

Meir Shalev: Der Junge und die Taube. diogenes 2007. 488 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 50, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 13. Dezember 2007, S. 25.

Federleichte Liebelei. Meir Shalev In seinem neuen Roman verbindet der Israeli biblische Motive mit einer anrührenden Romanze. Zudem ist "Der Junge mit der Taube" eine sinnliche Parabel auf Freiheit, Frieden und Hoffnung.


„Der Junge und die Taube“ heißt der neue Roman des großen israelischen Geschichtenerzählers Meir Shalev. Es ist ein lebenssattes und augenzwinkernd weises Buch über große Gefühle und das kleine Glück, über starke Frauen und fremdbestimmte Männer, wunderbare Taubenbotschaften und beseelte Bäume, über die Sehnsucht nach jüdischer Heimat und einem Platz für die zwei Füße von Jair Mendelsohn.

 

„Geh dir ein Haus suchen. Einen Halt für deine Füße. Damit du einen Platz für dich hast“, wünscht sich seine Mutter vor ihrem Tod für ihren Sohn und überreicht ihm eine unerwartet hohe Geldsumme. Ein altes Haus soll es sein, so Raajas Wunsch, mit großen Zypressen und einem Johannisbrotbaum davor, und aus den Gehsteigritzen sollen Gräser sprießen. Weil durch einen großen Baum der Wind anders gehe als durch junge und in einer alten Ortschaft die Feindschaften schon ausgetragen und die großen Lieben schon eingespielt seien.

 

Eine Hinterlassenschaft, die auf Jairs große unbewusste Sehnsucht trifft. Denn in der Wohnung seiner attraktiven Frau Liora, einer amerikanischen Geschäftsfrau, die ihn aushält, ist er nie heimisch geworden (Ähnlichkeiten zu aktuellen Beziehungen lebender Staaten sind selbstverständlich rein zufällig). Schon als Fremdenführer für ausländische Vogelkundler war das Unterwegs sein Zuhause. Auch als Chauffeur für das Immobilienunternehmen seiner Frau fühlt er sich während der Fahrt am wohlsten. Er ist ein treuer Kunde des Globetrotterladens und hat Schlafsack und Kocher immer im Kofferraum seines Autos, das er ironisch „Nilpferd“ nennt. Zum Einsatz kommt die Outdoor-Ausrüstung absurderweise aber erst, als Jair zur Ruhe kommt und ein Haus für sich findet. „Schalom Haus“, begrüßt er das altersschwache Gebäude, genau so, wie es seine Mutter immer getan hat. Wie sie horcht er auf Antwort, legt sich auf die Isomatte unter das löchrige Dach und fühlt sich Zuhause.

 

Jair bittet den hemdsärmeligen und herzensguten Bauunternehmer Meschullam Fried, einen langjährigen Freund und Schutzengel der Familie, um Hilfe bei der Renovierung. Meschullams Tochter, Jairs Jugendfreundin Tirza, lenkt als reale und symbolische Baumeisterin und sinnenfrohe Geliebte das biblisch anmutende Bauprojekt. Jair ist angekommen. Dazu brauche der Mensch nicht viel, so seine lebenskluge Mutter einmal während der Nachspeise: „Was Süßes zum Essen, und eine Geschichte zum Erzählen, und Zeit und einen Platz, und Gladiolen in der Vase, und zwei Freunde, und zwei Berggipfel (…) und (…) zwei Augen, um damit wartend den Himmel abzusuchen.“ Einen Platz hat Jair mit Hilfe seiner Mutter jetzt gefunden. Auch eine Geschichte hat Raaja ihm hinterlassen: die Geschichte vom Jungen und der Taube.

 

„Baby“ wurde der kleine Junge mit der großen Leidenschaft für Tauben schon im Kibbuz genannt. Auch „das Mädchen“, das er im von der Hagana geführten Taubenschlag im Zoo von Tel Aviv kennenlernt, ist eine große Brieftaubenfreundin. Bald schickt sich das Liebespaar regelmäßig geflügelte Luftpost. Als er als Brieftaubenexperte für die Palmach in den israelischen Unabhängigkeitskrieg zieht, bleibt die Taubenbrücke ihre einzige Verbindung. Auch die letzte Nachricht von ihrem Geliebten erhält „das Mädchen“ von einem geflügelten Boten. Die engelsgleiche Taube überbringt ihr in einer an die Verkündigung angelehnten Szene seine kommentarlose Botschaft: ein Röhrchen mit seinem Samen. Unmissverständlich für „das Mädchen“, das sich zuvor ein gemeinsames Kind gewünscht hatte. Der Sohn, der aus Raajas wundersamer „unbefleckter Empfängnis“ hervorgehen wird, ist Jair. Wie seinen eigenen Sohn zieht ihn Raajas späterer Ehemann, der Kinderarzt Dr. Jakob Mendelsohn, auf. „Euervater“ nennen ihn Jair und sein ungeliebter Stiefbruder Benjamin von kleinauf. Nicht zufällig trägt er den Namen des biblischen Stammvaters.

 

Der Roman ist von biblischen Bezügen durchwirkt: mit Symbolen wie dem zentralen Motiv der Taube, die – von der Arche Noah bis zur Verkörperung des heiligen Geistes – für Freiheit, Frieden und Hoffnung steht. Faszinierend ist, wie es Meir Shalev gelingt, dieses und andere symbolisch überfrachtete Motive in die aktuelle Wirklichkeit zu holen, neu zu füllen und wieder konkret fühlbar zu machen. Ob der paradiesische Garten der Familie Fried, ob Zypressen, Feigen- oder Johannisbrotbäume, ob Zugvögel wie Kraniche oder Pelikane: Bei Shalev sind es gelebte Symbole, die durch persönliches Erleben individuelle Bedeutung zurückerhalten.

 

Der Autor kann dafür auf das großartige Potenzial der drei- bis viertausend Jahre alten hebräische Sprache zurückgreifen. Die Sprache der Bibel ist voller Gleichnisse und Weisheiten, Sinnbilder und Parabeln. Shalev nimmt die Bilder beim Wort. Er füllt hohes Pathos mit Sinnlichkeit und bricht Weisheiten mit augenzwinkerndem Humor. Das gelingt ihm am besten in der liebevollen Beschreibung der Figuren Meschullam und Tirza Fried und ganz besonders in Passagen, die wie ein leises Gebet an Jairs Mutter klingen. Auch wenn der Roman in der Mitte leicht einbricht; „Der Junge und die Taube“ ist toll erzählt, voller Leben, etwas fürs Herz, aber auch für den Verstand, eine Geschichte, wie auch Jair sie sich wünscht, „die etwas von Schmerz und Bekenntnis enthält und auch (…) ein bißchen Vergnügen und ein Quentchen Geheimnis.“

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