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Michael Stiller: Lichtspiele.

Wien: Czernin Verlag, 2005. 104 S.; brosch.;

Rezension vom 17.10.2005 im literaturhaus.at

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Sein Name ist Klaus Nendig. Seine Berufung: Erinnerungssammler. Seine Biografie: normal. Fünf Jahre verkaufte er Lebensversicherungen und Pensionsvorsorgen. Danach arbeitete er in einem Großraumbüro. Ein durchschnittlicher Angestellter mit einer geregelten Beschäftigung. Tägliches Weckerläuten, dreihundertfünfundsechzigmal im Jahr abzüglich den Wochenenden, Feiertagen, Urlaubs- und Krankenstandstagen. Und in der Freizeit? Ein glückliches intaktes Familienleben mit Ehefrau Sabine und Tochter Sarah. Fast hätte er ein Haus gebaut. Wäre ihm nicht etwas dazwischengekommen.
Eine vergessene Geldbörse, ein verpasster Bus zur Arbeit. Damit hatte alles begonnen. Zehn Minuten nicht aufholbarer Lebenszeit. Zehn Minuten, die Klaus Nendig sich selbst seit diesem Morgen immer voraus ist. Und umgekehrt immer hinterher. Zehn Minuten entfernt lebt das zweite Ich sein Leben. Seitdem ist klar: Er muss alles dafür tun, sich selbst wieder einzuholen. Sich und seine Vergangenheit. Denn zehn Minuten hinter seiner Zeit quält ihn die Angst, dass ihm gleichzeitig mit sich selbst auch seine Erinnerungen verloren gehen. Also verlässt er seine Familie, gibt seine Arbeit auf und wird zum hauptamtlichen Erinnerungssammler.

Der geeignete Ort für seine Erinnerungsarbeit? Ein Sammelbehälter. Ein Altpapier-Container, in dessen Dunkelheit er Licht in seine Vergangenheit zu bringen hofft. In einer sternenlosen Nacht rollt er seinen Erinnerungscontainer durch die menschenleeren Straßen, um sich in ihm einzurichten. Seine Ausstattung: Geburtsurkunde, Führerschein, Reisepass und Fotoalbum. Ein Bücherstapel als Sitzgelegenheit. Ein Loch in die Containerwand gebohrt, und schon kann es losgehen, das Gedächtnistraining gegen das Vergessen.
Ein gebündelter Lichtstrahl fällt ins Innere und lässt auf der Containerwand Lichtspiele ablaufen. Slapstickartige Szenen aus Klaus Nendigs normal verrückter Verwandtschaft. Onkel, Tanten, Cousinen, Familienhunde und Katzen laufen durchs Bild. Armselig traurig-komische Kasperl-Figuren, die in absurden Kurzfilmsequenzen kaum vorgestellt, schon wieder verschwinden. Onkel Hubert und Tante Adelheid mit ihren beiden Töchtern. Die eine dick und dreist, die andere einsam und am Rand. Und Cousin Richard, dessen gefrorene Leiche erst nach Wochen im Behelfsheim gefunden wird. Oder Tante Hilda, die Krankenschwester, mit ihrem heimlichen Geliebten in Zürich, Onkel Ueli Schrittmatter mit dem Regenschirmgeschäft. Nicht zuletzt Astrid und Fleischhauer-Onkel Hermann, der seinen Hund Hasso am Besuchsmorgen am Fleischerhaken aufgespießt findet.
Schließlich treffen alle zur kollektiven Familienfeier zusammen. Auch Familie Kuchinger mit den viel zu langen Gliedmaßen und der unklaren Verwandschaftsbeziehung, die auf jeder Geburts-, Trauer- oder Hochzeitsfeier wie aus dem Nichts auftauchen. Zahllose abstruse Lichtspiele flimmern über die Containerwand und lassen Klaus Nendig schließlich in eine tiefe Ohnmacht sinken. Aus der er erst wieder erwacht, als zwei Müllmänner in Orange verwundert den Containerdeckel lüften. Und den Erinnerungssammler in die Flucht treiben. Zu seinem Glück. Denn in einem Touristenbus gen Süden fliehend, findet er sich selbst zurück. Und seine zehn verlorenen Minuten. Die eigentlich einen guten Geschichtenanfang abgegeben hätten. Ebenso wie der Rückzug Klaus Nendigs in den Beckettschen Sammelcontainer.

Aber Michael Stillers "Lichtspiele" nutzen das zugleich humoristische und philosophische Potential der absurden Ausgangssituation nicht aus. Klaus Nendig bleibt ein Schattenriss seiner eigenen Lichtspiele. Und auch die familiären Kurzfilmszenen loten den existenziell-komischen Spielraum des skurillen Szenarios nur beschränkt aus. Schade. Denn das Talent zum grotesk-witzigen Übertreibungskünstler hätte Michael Stiller schon.

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