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Außer Tresen nichts gewesen

Arnold Thünker: Keiner wird bezahlen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 159 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 28, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 8. Juli 2004, S. 22.

 

PROVINZROMAN Arnold Thünker beschreibt die Leiden eines jungen Schankwirtsohnes


Arnold Thünkers Debütroman „Keiner wird bezahlen“ erzählt die Geschichte von einem Jungen, der in den siebziger Jahren in einem kleinen Voreifeldorf nahe des Rheins aufwächst. Die in der Tradition des Entwicklungsromans stehende Erzählung erinnert in weiten Teilen stilistisch und konzeptionell an die authentische Bildersprache und kommentarfreie Darstellungsform von Truffauts berühmtem Filmdebüt über die glücklose Jugend des Antoine Doinel in „Sie küssten und sie schlugen ihn“.

 

Im Zentrum von Thünkers Erzählung steht der jüngste Sohn einer Wirtsfamile, der im Gasthaus hinter der Theke groß wird. Gleich nach der Schule steht er zwischen Soleiern und Frikadellen am Tresen, um Schnaps auszuschenken und Bier zu zapfen. Früh taucht er „in die unheimliche Welt der Erwachsenen ein, wurde zum Vertrauten von Männern, die sich mitten in der Woche einen ganzen Tag lang betranken“.

 

Bei Skatturnieren, Beerdigungen mit Streuselkuchen und Schnaps, Proben des Männergesangsvereins und Dorfschlägereien muss der namenlose Protagonist sich um die Betrunkenen kümmern, Verletzte verarzten und dafür sorgen, dass die Rechnung bezahlt wird.

 

Statt kindlicher Geborgenheit und spielerischer Freiheit wird seine Jugend von den zähen Nachmittagsstunden am Zapfhahn und der dörflichen Enge bestimmt: „Die Welt war mir immer unnahbar und verschlossen erschienen. Nur für die anderen war sie offen, und ich fand keinen Trick, mich in diese Weite zu werfen.“

 

Die kleine, einsame Welt des Jungen, „der früh gelernt hat zu schweigen“, bewegt sich zwischen den Schulstunden in der Dorfschule aus Bruchstein, in der mehrere Jahrgänge parallel unterrichtet werden, dem Dienst als Messdiener in der romanischen Kirche Sankt Viktor, dem Wirtshaus und den vielen häuslichen Arbeiten, für die er sich schämt: Hühner einfangen und schlachten, Schweine füttern, Fischabfälle holen oder das Waldstück von altem Holz säubern. Der Vater, Hilfsarbeiter in einer Wellpappefabrik, ist Alkoholiker und schlägt die Mutter. Sie versucht mit verzweifelter Härte gegen sich und die Kinder den notwendigen Standard aufrechtzuerhalten, um die bürgerliche Fassade zu wahren.

 

Für persönliche Befindlichkeiten oder gar individuelle Hoffnungen und Wünsche bleibt da kein Platz. Selbst dann nicht, als die Mutter unerwartet stirbt: „Ich stand da und war, wie sie es immer verlangt hat: stark, egal, was passiert. So stand ich lange und tat, was getan werden musste. Bier zapfen, Gläser spülen und darauf achten, dass keiner zu lange auf seine Bestellung warten muss.“

 

In seiner Einsamkeit zieht es den Jungen hinaus über die steil gepflasterte Hauptstraße, die unmittelbar nach dem Bildstock der heiligen Maria aus bemaltem Gips in den Hohlweg und in Wiesen und Felder übergeht: auf die Bank unter der Eiche am Dorfrand. Sie ist doppeltes Symbol hoffnungsloser Einsamkeit und der unerfüllten Sehnsucht nach Glück. Hier trifft sich der Sechzehnjährige auch mit der neu zugezogenen Nadine, deren Liebhaber er wird. Eine verzweifelte Liebe, denn sie ist die Ehefrau des Berufsschullehrers Ernst, der ihn, „wie ein Gott, der einen traurigen Himmel hat“, als Erster je nach seinem Befinden fragt. Und eine Affäre, die ihn am Ende einsamer, hilfloser und perspektivloser zurücklässt als zuvor: „Ich will wissen, was meine Zukunft ist. Keiner gibt Antwort. In solchen ewigen Augenblicken ist alles Reden stumm.“

 

Trotz aller Tragik ist diese großartige, dichte Erzählung nie pessimistisch, trotz allen Pathos wird die Geschichte nie sentimental. Arnold Thünker schafft es, die hohe Authentizität der Icherzählung mit einer ausnehmend distanzierten, beinahe nüchternen, wortkargen Erzählweise zu verbinden. Mit treffsicheren lakonischen Formulierungen und verkürzt bis zum Telegrammstil im Showdown: „Keine Zeit mehr. Wach. Wasser trinken. Wieder übergeben. Endlich schlafen, schlafen. Tage . . . Worte, die ich nicht hören kann. Den Magen auspumpen. Schläuche in der Nase.“ Der Autor entwickelt aus dieser bewussten Diskrepanz eine große sprachliche Energie und evoziert damit genau jene „Sehnsucht, die bis zum Ende in einem schlummert. Irgendwann . . . liegen irgendwo auf der Welt die Scherben der Tasse, die man als Kind umgestoßen hat. Oder der Duft längst vergangenen Glücks schlägt einem entgegen, und man ist herrlich machtlos.“

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