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... und eine große Stille im Himmel

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. Kiepenheuer & Witsch 2003, 159 Seiten,

Rheinischer Merkur, Nr. 39, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 25. September 2003, S. 23.

 

ROMAN / Uwe Timm zeichnet am Los des gefallenen Bruders die Frage von Schuld und Verstrickung nach. Wer warst du, Kain?


Die Erzählung beginnt mit einer Momentaufnahme. Ein sekundenlanges Blitzlicht auf die einzige Erinnerung des damals dreijährigen Uwe Timm an den 16 Jahre älteren Bruder, der wenige Monate später im Jahr 1943 in der Ukraine schwer verwundet stirbt. Eingeprägt hat sich vor allem ein Gefühl, an „sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern.“ Die restlichen Erinnerungsstücke sind ein kleines Pappkästchen, mit Briefen, den Orden, ein paar Fotos, einer Zahnpastatube und einem Kamm. Und: das heimlich geführte Tagebuch. An ihm entlang, immer wieder Zitate einflechtend, gleichsam mäandernd, sucht Uwe Timm seinem Bruder näherzukommen. Seiner Persönlichkeit, seinen Kriegserlebnissen, den letzten Wochen, nach der Amputation beider Beine im Feldlazarett. Und vor allem den Gründen für die freiwillige Meldung zur Waffen-SS. Ein Lichtblick in den dunklen und nichts über die Emotionen des Bruders verratenden Tagebucheintragungen ist für Uwe Timm der letzte Satz, den er wenige Wochen vor der Verwundung schreibt: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.“

„Am Beispiel meines Bruders“ spürt Uwe Timm den komplexen Verflechtungen zwischen politischen Konditionierungen und gesellschaftlichem Wertesystem einerseits und familiären Prägungen andererseits nach. Deshalb heißt, über den Bruder schreiben, auch über die Familie, vor allen Dingen den Vater, schreiben. Denn für den Vater, der sich schon im Ersten Weltkrieg freiwillig meldet, ist der ältere Bruder der Wunschsohn, „der nicht log, der immer aufrecht war, der  nicht weinte, der tapfer war, der gehorchte. Das Vorbild.“ Der Bruder ist für Uwe Timm so in doppeltem Sinne schattenhaft präsent: als Verkörperung des väterlichen Leitbildes, das er, der kleine Bruder, nie erfüllen kann. Das Vorhaben, sich “ ihnen schreibend anzunähern,“ ist daher auch „der Versuch, das bloß Behaltene in Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden.“

Uwe Timm dringt bis zu seinen ersten Eindrücken und Erlebnissen vor: Bilder, Gerüche, Geräusche. Ein seltener Ausflug allein mit dem Vater, „eines der deutlichen Erinnerungsbilder,“ wie die Mutter in der Kürschner-Werkstatt der Familie dasitzt und näht, ein anderes deutliches Bild, „mit dem Erinnerung einsetzt: die riesigen Fackeln, rechts und links der Straße, die brennenden Bäume“ – ihr Haus wird durch Phosphorbomben zerstört. Und noch eines der frühen Bilder: im Luftschutzraum mit Mutter und Schwester. Als Uwe Timm erzählt, wie er sich nach dem Krieg einen Luftschutzbunker ansieht, ist es für ihn – und es klingt als beschreibe er den Vorgang beim Schreiben – „wie ein Rückstieg in die Kindheit (...). Ein ganz eigentümlicher Abstieg, der abgesunkene Bilder mir vor die Augen brachte. (...) Und erst langsam, sehr sacht, verloren sie ihre Leuchtkraft.“

Uwe Timm nähert sich der zwiespältigen Beziehung zu seinem Vater. „Manchmal, sehr selten, ist er mir nahe“, der begabte Präparator und ungewollte, glücklose Kürschner, der als charmanter Plauderer in der Gesellschaft seine wirtschaftlichen Misserfolge und die Trauer über den Tod des Sohnes zu verbergen sucht, während er zu Hause die Enttäuschungen und Verluste in Alkohol ertränkt. Er erinnert sich an die tragisch-unglücklichen Beziehungen der Schwester; ihre einzige glückliche, aber kurze Liebe mit über siebzig Jahren. Zärtlich beschreibt der Autor seine Mutter, eine freundliche, humorvolle und gütige Frau, zierlich von Gestalt und doch von großer Zähigkeit und Kraft, die Ruhe und tiefe Gelassenheit ausstrahlt. Mit gleichsam „brüchiger Stimme“ schreibend, schildert er die gemeinsame „Welt, die nur wir kannten, in der wir uns bewegten, verschworen, sie und ich.“

Nach dem Tod der Mutter überträgt sich ihr Wunsch auf Uwe Timm, in die Ukraine zu reisen, um dem Ort nahe zu sein, an dem Bruder gestorben ist. Auf der Reise in die Vergangenheit kommt er ihm schließlich im Traum und damit der „Ähnlichkeit, meine, zum Bruder“ so nah, wie die Erinnerung es nicht vermag. Aber auch dies bleibt nur eine Annäherung. Der Bruder, und damit indirekt auch der Autor sich selbst, bleibt, ein unscharfer, nebelhafter Umriss auf dem Buchtitel deutet es an, bis zum Schluss schattenhaft konturlos.

Uwe Timm ist eine Erzählung von hoher emotionaler Intensität und Authentizität gelungen. Dabei beschreibt er mit großem Respekt vor jeder einzelnen Persönlichkeit, ohne zu verurteilen, aber auch ohne kritiklos einfach nur festzuhalten. Auf sprachlich sehr leise, aber eindringliche Weise, versucht er, um höchste Genauigkeit bemüht, die Erinnerung zu fixieren und Zeugnis abzulegen. Ein bewegendes und sehr mutiges Buch.

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