Die Geburt der Rassenhygiene aus dem Geist der Utopie
Uwe Timm: Ikarien. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag 2017. 512 Seiten.
Sendung vom 29.10.2017 im Deutschlandfunk / Buch der Woche, Moderation: Hubert Winkels
Beitrag hören (Zitate gesprochen von Franz Laake vom DLF-Sprecherensemble)
Der erfolgreiche deutsche Schriftsteller Uwe Timm, Jahrgang 1940, gilt als einer der wichtigsten literarischen Vertreter der 68er-Generation. Sein Werk ist geprägt von der Auseinandersetzung mit der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Große Erfolge feierte Uwe Timm Anfang der 1990er Jahre mit der Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“. 2001 wurde Timm für seinen Roman „ROT“ gefeiert. 2003 erschien Timms autobiografische Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“ über den Umgang seiner Familie mit dem Tod von Timms 16 Jahre älterem Bruder, der Mitglied der Waffen-SS war. In der Erzählung „Der Freund und der Fremde“ (2005) arbeitet Timm die Geschichte seiner Freundschaft zu Benno Ohnesorg auf. Sein vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben Prosa, Drehbüchern und Hörspielen auch vier Kinderbücher. 2013 gelangte Uwe Timm mit dem Roman „Vogelweide“ auf die Auswahlliste des Deutschen Buchpreises.
Jetzt ist sein fünfhundert Seiten starker Roman „Ikarien“ erschienen. Ein monumentales Werk über die Genealogie der nationalsozialistischen Rassenhygiene. Hauptfigur ist der Vererbungstheoretiker Alfred Ploetz. Alfred Ploetz ist der Großvater von Uwe Timms Ehefrau, der Übersetzerin Dagmar Ploetz. Uwe Timm lässt in seinem Roman viele historische Stimmen und Fakten sprechen. Und schlägt entlang der Biografie von Alfred Ploetz einen großen geschichtlichen Bogen von den 1880er Jahren bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Erkennen heißt unterscheiden und untergliedern, vermessen und vergleichen. Was, wenn Schuld bereits mit dem ersten Vergleich beginnt? Und die Ablehnung des Andersartigen nur die Vorstufe vor dem Aussortieren des Abweichenden ist? fragt der namenlose Ich-Erzähler und Alter Ego von Uwe Timm in seinem Roman „Ikarien“ zuallererst sich selbst. Er blickt zurück: Als kleiner Junge steht er nach dem Krieg für Kaugummis zusammen mit dem geistig behinderten Karl vor einem amerikanischen Jeep. Karl hat den Zweiten Weltkrieg von den Eltern versteckt überlebt. War es nicht schon Verrat, ihn zu hänseln, um den anderen zu gefallen?
Der amerikanische Offizier im Jeep heißt Hansen. Mit ihm beginnt die eigentliche Geschichte: eine Befragung von Tätern und Tatzeugen zur Rassenhygiene und der Tötung von psychisch und körperlich Beeinträchtigten während der NS-Zeit. Als Nachrichtenoffizier kehrt Michael Hansen in den letzten Kriegstagen Anfang April 1945 zurück in seine deutsche Heimat. Die er mit zwölf Jahren verließ, als der Vater noch vor Hitlers Machtergreifung aus beruflichen Gründen mit der Familie aus Hamburg in die USA übersiedelt. Kurz nach der Kapitulation wird Hansen zu einem geheimnisvollen Auftrag nach München abkommandiert.
Hansen war es, als wüssten die oben in den Stäben nicht, wohin mit ihm. So, als schöbe man ihn hin und her. Aber Major Engel sagte, ohne dass Hansen gefragt hätte, keine Angst, wir, die Gesellschaft vom Turm – Sie sind doch Literaturwissenschaftler –, behalten Sie im Auge. Sie haben die harte Wirklichkeit gesehen. Das war die Initiation. Jetzt sollen Sie zum Geistigen kommen. Sie wurden ausgewählt. So feierlich darf ich das sagen. (…) Also. Sie sollen nach München. Und hier ist die Adresse. Der Mann war 1936 im Gespräch für den Friedensnobelpreis. Fachmann für die Eugenik und Begründer der Rassenhygiene.
Es handelt sich um Alfred Ploetz. Ploetz ist bereits seit 1940 tot. Aber sein Wegbegleiter Wagner lebt. Hansen soll Wagner befragen, wie sich bei Ploetz die Theorie der Rassenhygiene herausgebildet hat. Hansen lässt sich mit seinem Kollegen George, einem Psychiater aus Austin, im Herrenhaus neben Ploetz‘ Schloss in Herrsching nieder. Vom idyllischen Ammersee mit Blick auf die Alpen pendelt Hansen nach München, um Wagner zu befragen.
Alfred Ploetz und Wagner – eine Doppelbiografie
Der mittlerweile einundachtzig Jahre alte Mann lebt in einer kleinen Dachgeschosswohnung. Wagner ist Nazi-Gegner und von der Verfolgung durch die Gestapo und seine Haft in Dachau gezeichnet. Stück für Stück legt er Zeugnis ab von Ploetz Biografie, die eng mit seinem eigenen Leben verbunden ist. Wagners Doppelporträt gestaltet sich als Disput, in dem sich nicht nur Rede und Gegenrede, sondern viele weitere Stimmen der Geschichte überkreuzen. Und spannt einen großen historischen Bogen, der von den Anfängen der Arbeiterbewegung mit Beginn der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg, die Räterepublik und den Nationalsozialismus bis zur Kapitulation im Jahr 1945 reicht.
In seiner Erzählung montiert Wagner im Rückblick auf die Vergangenheit so viele verschiedene Figuren und Geschichten ineinander, dass die Grenzen von Raum und Zeit zu verschwimmen drohen. Gleichzeitig werden vom Autor im dauernden Wechsel von Wagners Erzählung mit der Rahmenhandlung im Nachkriegsdeutschland historische Wirklichkeit und Fiktion eng miteinander verschränkt. Der Roman konstruiert damit einen autonomen Erzählraum zwischen Realität, Fiktion und Trauma, der den Leser beinahe magisch mit in den Strudel des Erzählten zieht. Obwohl das, was Wagner in seinem vierzehn Tage dauernden Verhör enthüllt, für den Leser rational und emotional kaum zu verkraften ist.
Wagner erinnert sich an Ploetz Aura, aber auch an seine Kälte:
Ja, doch, ich war als junger Mann sein Adlatus. Ich bin, was mir behagt, der Beiseite-Stehende. Habe ihn bewundert. Eben neunzehn Jahre war ich alt, als ich ihn, den vier Jahre Älteren, kennenlernte. (…) Ich hatte die Gelegenheit, sein Leben zu verfolgen. Ja, ich kann Zeugnis ablegen. Seine Hoffart und seine Verdammnis. (…)
Ein Satz Darwins, den er oft zitierte, lautet: Ein wissenschaftlicher Mann sollte keine Wünsche haben, keine Gefühle – nichts als ein Herz aus Stein.
(…) Er nahm sich, was seinem Forschungsprojekt diente. Die Rechtfertigung lag in der Wissenschaft. In der Erkenntnis. Da gab es nur wahr und falsch. Es gab kein Dazwischen. Kalte Logik. Alles andere war für ihn verachtenswerte Gefühligkeit.
Geheimbund „Pacific“ - Konkrete Utopie nach Étienne Cabets „Ikarien“
Ploetz und Wagner studieren in Breslau, als sie sich kennenlernen. Der vier Jahre ältere Ploetz ist der Mittelpunkt einer Gruppe junger Studenten, die sich in den 1880er Jahren zum kommunistischen Geheimbund „Pacific“ zusammenschließt; unter ihnen auch Gerhart Hauptmann. Die nach dem lateinischen Wort für „Frieden“ benannten Pacifier begeistern sich nicht nur für die kommunistische Idee. Sie wollen sie auch umsetzen. Und zwar nach dem Modell von Étienne Cabets 1840 in Frankreich erschienenem Roman „Ikarien“. In Cabets Buch geht es um den utopischen Entwurf einer Gemeinschaft, in der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit herrschen. Am Ende fordert der Roman die Leser direkt zur Auswanderung nach Amerika auf.
Cabet löste damit tatsächlich eine Massenbewegung aus. Politisch Enthusiasmierte verkauften nach der Lektüre Haus und Hof, zogen von Europa in die USA und bauten dort nach dem Modell von Cabets „Ikarien“ Gemeinschaften auf. Die Pacifier nehmen sie zum Vorbild. Sie wollen ihre eigene Kolonie in der Neuen Welt gründen. Wagner und sein Freund, die noch während des Studiums vor Bismarcks Sozialistengesetz nach Zürich fliehen mussten, sollen vorher die sogenannten „Ikarier“ in den USA besuchen und den Freunden in Breslau Bericht erstatten. Doch die USA-Reise wird eine Enttäuschung: Die ikarische Gemeinschaft entspricht in keinster Weise ihrem Idealbild. Ploetz habe daraus seine eigenen fatalen Schlüsse gezogen, so Wagner:
Es kann keine Gleichheit geben, wo die Ungleichheit so groß ist. (…) Die Gleichheit kann nur durch eine allgemeine Höherentwicklung erreicht werden (…): die Aufzucht eines starken, gesunden, vor allem auch schönen Geschlechts (…). Es muss eine biologische Revolution geben, sie muss die soziale ergänzen!!!
Die Geburt der Rassenhygiene aus dem Geist der Utopie
Wagner kann und will Ploetz brisante Schlussfolgerung nicht mitgehen und wendet sich politisch von ihm ab. In ihm wächst die Befürchtung: Die Idee der Regulierung menschlicher Eigenschaften zur Züchtung eines biologisch perfekten Menschen sei in den dominanten Ordnungsstrukturen von Utopien bereits angelegt. Auch Cabets „Ikarien“ baue auf einem Superplan auf, der alles bis ins letzte Detail reguliere. Sogar sein Grundriss der Hauptstadt Ikar sei nach strikt geometrischer Maßgabe in fast perfekter Kreisform entworfen. Wagner sieht genau an diesem Punkt den Ursprung für die Selbstüberhebung des Wissenschaftlers, der den Menschen selbst im Dienste der Erkenntnis zum Zwecke des Fortschritts zum Versuchsobjekt degradiert.
Cabet hatte sich von Campanella inspirieren lassen, wenn er schreibt, die Ikarier wollen durch Züchtung nicht nur das Tier- und Pflanzenreich, sondern auch die biologische Substanz des Menschen ›veredeln‹. (…) In der Züchtung steckt das Wort Züchtigung. Das Schwache, Abweichende muss bekämpft, muss ausgemerzt werden. Die Sieben – es waren später an die zwanzig Pacificer – waren begeisterte Anhänger Darwins. Der Mensch nicht mehr als Schöpfung Gottes, sondern das Resultat eines Naturgesetzes: der Evolution. The struggle for life. Die natürliche Selektion als Mechanismus der Evolution. Diese Theorie pustete allen metaphysischen Qualm weg. Man ist nicht der aus göttlicher Hand geformte Lehmkloß, sondern Ergebnis der Natur. (…) Waren Korrekturen möglich? Auch Verbesserungen? (…) Wir haben den Schlüssel für die Naturgesetze in der Hand, rief er aus. Die Weltformel. Alles ist machbar. Der Mensch konnte sich selbst bestimmen durch die Naturwissenschaft.
Alfred Ploetz, Wegbereiter nationalsozialistischer Euthanasie-Praxis
Eine philosophische Umwertung der Werte mit verhängnisvollen praktischen Folgen. Wagner erinnert sich an einen gemeinsamen Besuch mit dem Freund während ihres Schweizer Exils im „Burghölzli“. Leiter der Schweizer Nervenklinik ist Ploetz‘ Universitätslehrer Professor Auguste Forel. Auf der Station für „psychomotorisch-gestörte Idioten“ stellt der Freund und Medizinstudent zum ersten Mal Euthanasie, den „sanften Tod“ als konkrete Option zur Erlösung sogenannter „Ballastexistenzen“ in den Raum. Ploetz selbst habe zwar auch später nie die Tötung von Patienten veranlasst, so Wagner. Aber mit seinen späteren Schriften wie "Ziele und Aufgaben der Rassenhygiene" oder "Volksaufartung. Erbkunde. Eheberatung." sei er maßgeblich zum gedanklichen Wegbereiter der Eugenik geworden. Trotzdem bleibt Wagner in Kontakt mit ihm.
Die Pacifier haben sich längst aufgelöst, als Ploetz nach dem Studium als Arzt zu praktizieren beginnt. Erst in Paris, dann in den USA und Berlin. 1904 gründet Ploetz die „Gesellschaft für Rassenhygiene“. Er lässt er sich mit seiner zweiten Frau Anita und Familie in einem Schloss in Herrsching bei München nieder. Dort führt er in einem Barackenlager im Kleinen an Kaninchen Versuchsreihen zur Vererbung durch. Seine Thesen haben Modellcharakter. Juli 1933 erlässt Hitler das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, auf dessen Grundlage systematisch sogenanntes „lebensunwertes Leben“ verhindert, ausgesondert und vernichtet wird. In unvorstellbarem Ausmaß.
Wagner muss das Verhör immer wieder unterbrechen. Auch für Hansen sind Wagners Berichte schwer zu verkraften. Ausgleich sucht er in der Idylle am Ammersee. Wo er auch seine Affären pflegt. Und er es sich abends auf der Terrasse vom paradiesisch gelegenen Herrenhaus beim Whiskey mit seinem Mitbewohner George gut gehen lässt. Doch weder Hansen noch George gelingt es, die täglichen Verhöre zu vergessen. George hat die Aufgabe, die Ärzte zu befragen, die für Menschenversuche, Zwangssterilisationen und Tötungen verantwortlich waren.
Und er erzählte, dass er morgens bei dem Verhör von Professor Schilling dabei gewesen sei. Eine medizinische Kapazität. Schilling habe in Dachau Versuche an Häftlingen gemacht. Versuchsreihen mit Frauen und Männern. Sie wurden mit Malaria infiziert, mit Cholera. Es war ein qualvolles, langsames Sterben. (…) alles war berechnet, die Zahl der Kalorien, die Zahl der Infusionen, die Messungen der Temperatur. Tabellen. (…)
Das Unfassliche. Der Engel der Geschichte sagt: Alles. Alles, auch das Fürchterlichste, ist nicht nur denkbar, es wurde wahr. The work of the white gods, sagte George, a report from the sanatorium in Kaufbeuren. Not far from here. They’ve killed 1.200 there, with injections, with Luminal. They sweetened it with raspberry syrup for the children. When we arrived, almost three months after the surrender, they were still at work. Killing those unworthy of living. Murders by conviction. (…)
Und das sei nur ein winziger Mosaikstein der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gewesen, in der Millionen Juden, körperlich und psychisch Beeinträchtigte oder auf sonstige Weise Andersartige aus Gründen der Rassenhygiene ermordet wurden. Sie hätten im Auftrag der Wissenschaft im Dienste der Erkenntnis gehandelt, zitiert George die verantwortlichen Mediziner.
Die Schwachen sind die eigentlich Starken
Wagner bestätigt: Auch Ploetz habe seine wissenschaftlichen Versuchsreihen zur Vererbungstheorie mit Erkenntnisgewinn rechtfertigt. Dem Wissenschaftler Ploetz habe es an Demut gefehlt, konstatiert Wagner. Ploetz konnte sich nicht mehr daran erinnern. Doch er habe sie nie vergessen. Die Worte des Assistenzarztes Dr. Brenner, der sie damals im „Burghölzli“ wie Vergil durch sämtliche Stationen menschlichen Leidens führte:
Erst sie, die so ganz vom Normalen Abweichenden, bedeuten uns, wer und was wir sind. Sie sind die Geschlagenen. Sie lehren uns Demut. Unser Menschsein ist ein Geschenk, egal, ob aus Kreation oder Evolution hervorgegangen, und dieses Geschenk gilt es zu hüten. Sie sind die Engel des Schmerzes, die uns lehren, was Glück ist, und dem Glück des Gelungenen die Trauer beigeben, ihr tiefes, tiefes Unglück. Denn es kann kein wahres Glück geben, wenn es das Leiden anderer gibt. Sie stehen in ihrem Unglück für die gefährdete Würde, für die Einmaligkeit des Lebens. Sie tragen ohne Bewusstsein den gefährdeten Wunsch nach Gesundheit und Schönheit mit sich. Die Beladenen, Schwachen, Schmerzreichen.
1940 sei der Freund in seinem Schloss an einem Lungenemphysem gestorben. Nur drei Wochen, nachdem der überzeugte Anti-Alkoholiker vor zahlreichen Gästen demonstrativ das Glas erhoben hatte: und zwar auf seine größte Niederlage. Seine Vererbungsthese, nach der Alkohol nicht nur den Körper der trinkenden Väter ruiniert, sondern gleichzeitig auch die Körper der Nachkommen, konnten seine jahrelangen Kaninchenversuche nicht belegen.
Die Stunde Null – Ende oder Neubeginn?
Das Verhör ist beendet. Wagners Bericht von Ploetz‘ Tod markiert auch das Ende seiner Lebensbeichte. Es ist der Versuch zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Das Unfassbare: Die Geburt der Rassenhygiene aus dem Geist der Utopie. Wie konnte der überzeugte Kommunist Ploetz zum Vordenker für die konkrete Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ werden? Sein sozialdemokratisches Parteibuch habe er zurückgegeben; auch an Gott glaube er nicht, so Wagner. Aber genauso tödlich sei es, an die Stelle des alten Gottes eine löbliche und erfreulich immer vorwärtswachsende Welt zu setzen, zitiert Wagner den anarchistischen Pazifisten Gustav Landauer.
Auch Michael Hansens Auftrag ist beendet. Doch seine Entwicklung, frei nach Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, scheint noch nicht abgeschlossen. Soll er überhaupt zurück in die USA? Und dort, wie vorher geplant, als Literaturwissenschaftler unterrichten? Zwei Bücher hatte ihm sein amerikanischer Professor mitgegeben: E.T.A. Hoffmanns „Nachtstücke“ mit Zeichnungen von Kubin, die das Unheimliche und Irrationale auf bedrohliche Weise anschaulich machen und Ernst Blochs „Spuren“, die für eine „konkrete Utopie“ und das „Prinzip Hoffnung“ stehen. Hansen ist hin- und hergerissen zwischen Entsetzen und Aufbruchsstimmung. Waren alle Deutschen Nazis, wie George behauptet? Auch Molly, die junge deutsche Offizierswitwe und Kunsthistorikerin, in die er sich verliebt? Gleichzeitig fühlt er sich selbst als halber Deutscher. Deutsch ist seine Muttersprache. Hansen möchte bleiben. Auch, nachdem Molly ihn versetzt. Vielleicht kann er die Vorgesetzten von seiner Idee überzeugen, in München einen Lesesaal mit amerikanischen Zeitschriften und Literatur aufzubauen?
Eine Bibliothek, wie sie im Oktober 1945 tatsächlich im Rahmen der Reeducation am Münchner Beethovenplatz entsteht. Vorbild für siebenundfünfzig weitere Amerika-Häuser. Wie jenes in Hamburg, das auch für den Ich-Erzähler am Ende des Romans zum Inbegriff der Freiheit und Ausgangspunkt literarischer Entdeckungsreisen wird.
Wahrscheinlich reichte es aus, dass die Autorität des großen Vaters infrage gestellt wurde, der die Amerikaner, die Sieger, ihre Sprache und Kultur, ablehnte, aber so gar nichts gegen sie tun konnte. Ich ging, ohne dass es mir jemand empfohlen, geschweige denn mich dazu angehalten hätte, in das an der Binnenalster gelegene Amerika-Haus, dort saß ich und las mithilfe eines ausliegenden Wörterbuchs Hemingways The Old Man and the Sea.
Hiermit öffnet der Roman, buchstäblich im Nachtrag, den Horizont zur Neuen Welt. Und definiert für sich den Möglichkeitsraum der Literatur als Nukleus individueller Initiation und vielleicht letzten Hort des Widerstands gegen die Verführung undifferenzierter Gleichmacherei. Der Erzähler setzt damit im Nachgang mit dem Bekenntnis zum Erzählen seinen eigenen, sehr persönlichen Akzent der Hoffnung gegen das schier übermächtige Entsetzen.
Ein Erinnerungsbuch mit dem Potenzial der Bewusstseinsveränderung
Uwe Timms Roman „Ikarien“ ist ein wahrhaft faustisches Unternehmen auf der Suche nach Erkenntnis und ihrer Kritik. Der Autor erklärt am Ende des Romans, die Anfänge seines Projekts „Ikarien“ gingen bis in das Jahr 1978 zurück. In dieser langen Planungszeit seien unzählige Interviews, Aufsätze und Dokumente in das Projekt eingeflossen. Einige davon sind im angehängten Literaturverzeichnis aufgeführt. Nicht nur die Lebensdaten von Alfred Ploetz hat Uwe Timm augenscheinlich bis ins Detail recherchiert. Sie sind Teil einer Unmasse von Fakten und Figuren, Handlungen und Nebenhandlungen, die oft die Auffassungsgabe des Lesers überfordert und die fünfhundert Buchseiten zu sprengen droht. Andere Figuren, wie Hansen, George oder Wagner, sind dagegen offenbar hinzu erfunden. Lange Zeit habe die epische Struktur gefehlt, erklärt Uwe Timm in der Danksagung. Tatsächlich fühlt man beim Lesen, dass es dem Autor nur mit einem großen erzählerischen Kraftakt gelingt, das historische Material in einen fiktiven Rahmen einzubetten. Doch auch wenn die literarische Qualität unter dem Gewicht der Geschichte ächzt und erdrückt zu werden droht: Das Grauen der Vergangenheit scheint so allererst „transportierbar“.
Uwe Timm hat in seinem Roman „Ikarien“ um eine erzählerische Form gerungen, die die Vergangenheit in den Köpfen der Leser wieder virulent werden lässt. Das ist ihm gelungen. Uwe Timms „Ikarien“ ist ein Erinnerungsbuch, das das Bewusstsein für die Gegenwart verändert. Seine Bedeutung ist kaum zu überschätzen in einer Gesellschaft, in der gelebte Inklusion nicht nur am System, sondern täglich am Denken der Menschen scheitert.