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schmetterlinge, die in die wiesen fallen

Jan Wagner: Guerickes Sperling. Gedichte. Berlin Verlag 2004. 84 Seiten.

unveröffentlicht

Da sitzt der Lyrik-Liebhaber im literarischen Frühling, kommt unversehens ein poetischer Vogel dahergeflogen: „Guerickes Sperling“, der zweite Gedichtband, den Jan Wagner nach seinem Debüt „Probebohrungen im Himmel“ publiziert.

 

Wer war Guericke? fragt sich sogleich der Bildungsbürger. Hat er nicht im 17. Jahrhundert die Pumpe zur Erzeugung des künstlichen Vakuums erfunden? Ausschnitte des geheimnisvoll ausgeleuchteten historischen Gemäldes „Das Experiment“ auf dem Buchumschlag bekräftigen jedenfalls diese Vermutung. Neugierig blättert der geneigte lyrikinteressierte Leser in den ersten Seiten – und stößt schnell auf das Titelgedicht.

 

Dort macht Jan Wagner, in jambischem Versmaß intonierend, jene historische Apparatur lebendig, die für den Sperling im Vakuum der Glaskugel zum totbringenden Verhängnis wird. Während draußen die Natur vor Lebensenergie strotzt, spielt sich im Laboratorium jene düstere Szenerie ab, die in der zynischen Apotheose der Schlussverse gipfelt: „dieser tote sperling ... / wird noch durch einen leeren himmel fliegen“. Liest man das Gedicht auf der Folie des literarischen Topos „der Singvogel als Symbol für Dichter und Dichtung“, liegt folgende Lesart nahe: Das experimentell erzeugte nihilistische Vakuum entzieht der Poesie radikal jede Existenzgrundlage.

 

Versteht sich das Schlüsselgedicht also als poetologisches Statement, das sich gezielt gegen das sprachliche Experiment im „luftleeren Raum“ richtet? Dazu passen jedenfalls Jan Wagners Thesen in „Zehn Aussagen suchen ein Gedicht“, in denen er das ideale Poem gegen die vorherrschende Meinung absetzt, es müsse „Schweiß und Anstrengung“ für den Leser bedeuten und „a) auch für wissenschaftliche Anlytiker ein Hochgenuß und b) per definitionem kopflastig sein.“ Aber was ist Jan Wagners Ausweg aus der „vorgeblich“ nihilistischen Sackgasse der sprachkritischen, experimentellen Tendenzen der Lyrik des 20. Jahrhunderts? Die Reanimation des Sperlings?

 

Für Jan Wagner ist Poesie ein „Grundbedürfnis“ jedes Menschen, „keine Randerscheinung, geschweige denn tot“. Als „Teil und Ergänzung des Alltags“ ist das Gedicht, so Wagner, „mit der Tradition vertraut, kennt alte wie neue Techniken des Dichtens und beherrscht sie.“ „Neben Rhythmus und Klang“ sieht er vor allem in der “Metapher das Herz des Gedichts.“ Jan Wagners Intention ist legitim, seine Thesen aber klingen provozierend anachronistisch.

 

Und die Gedichte? In „Guerickes Sperling“ finden wir historische Themen und Motive wie den Revolutionär Saint-Just oder Kolumbus und den Granatapfel aus einem Dürer-Gemälde. Genrebilder wechseln mit atmosphärischen Landschaftsbildern, Natur- und Reiseimpressionen oder Situationsgedichten. Mal im raunenden, mythisch stilisierten Fin-de-siècle-Stil, mal in expressionistischen freien Rhythmen, mal im strengen barocken Gedichtkorsett – den formalen Höhepunkt bildet ein höchst elitärer Sonettenkranz – beweist Jan Wagner, dass er die lyrischen Traditionen nicht nur kennt, sondern auch perfekt beherrscht. Äußerst formbewusst, mit zum Teil ungewöhnlichen suggestiven Metaphern gesättigt und vom professionellen Umgang mit Reim, Rhythmus und Klang zeugend, wirken die Gedichte beim ersten Lesen verführerisch perfekt. Bei der zweiten Lektüre sucht der Leser aber leider vergeblich nach unverwechselbaren charakteristischen Merkmalen. Das meiste bleibt seltsam dekorativ, den Bildern fehlt die Tiefenschärfe, Motive und Szenen wirken künstlich oder gar eklektizistisch und sind ausstaffiert mit dem kompletten Inventar sämtlicher lyrischer Requisiten von „sonne“, „mond“ über „sterne“ und „meer“ bis hin zu „blüten“ und „die schmetterlinge, die in / die wiesen fallen.“ Viele Elemente, wie Tonfall und Rhythmik, tragen epigonale oder anachronistische Züge: So die Überfülle allzu vertrauter Genitiv-Konstruktionen wie „bohrendes weiß der wand“ oder „die stumme sprache der dinge“ und die inflationäre Verwendung der nicht immer originellen Als- und Wie-Metaphern wie „blaue abende wie keller voller alter weine“ oder „so einsam unter menschen wie die axt im wald“. So bleibt die Gedicht-Lektüre eigenartig „blutleer“, eine „reise wie durch eine ansichtskarte“ und leider keine Expedition in eine neue lyrische Welt.

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