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Der ganz große Coup

Michael Wallner: Zwischen den Gezeiten. Luchterhand Verlag 2007. 256 Seiten.

Rezension vom 17.12.2007 im titel-magazin

http://titelmagazin.com/artikel/4457.html

Er ist ein Meister des letzten Satzes, eine Experte für Schlusseffekte, seine Pointen sitzen: Michael Wallner. Mit April in Paris hatte er im letzten Jahr internationalen Erfolg. Zwischen den Gezeiten heißt sein neuer Roman.


Und da er hier viele Geschichten in einer Geschichte erzählt, wo am Ende alle Handlungsfäden zusammenlaufen, muss Wallner am Schluss den „Großen Coup“ landen. Und das buchstäblich, denn es geht um Spielleidenschaft – und um Menschen, die das Risiko lieben und, wenn nötig, alles auf eine Karte setzen.
Dabei fängt alles ganz harmlos an. Inga hat einen Job als Schreibkraft in einem britischen Militärcamp in der Nähe von Föhrden in Norddeutschland. Als „Civilian Employee“ kann die junge Frau sich und ihre Eltern über Wasser halten. Von der Rente von Vater Erik, einem frühpensionierten Bahnhofsvorsteher, können sie nicht leben. Nur, weil Inga ab und zu Lebensmittelmarken „außer der Reihe“ erhält und die Familie regelmäßig bei den umliegenden Bauern hamstern geht, müssen sie in den kargen Nachkriegsjahren nicht hungern. Während ihrer eintönigen Arbeit an Stenoblock und Schreibmaschine macht Inga die Bekanntschaft von Alec Hayden. Der schottische Leutnant liegt im Lazarett des Militärstützpunkts. Er zieht das junge deutsche „Fräulein“ nicht nur mit seiner Spielleidenschaft in Bann. Denn Inga, das sieht er als Spieler sofort, ist ein Mädchen, das das Risiko liebt und das Besondere will. Vielleicht lässt sie sich deshalb zeitgleich auch mit Henning ein, einem Freund der Familie. Aber der Möbelfabrikant ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Also sucht Inga ihr Glück bei Alec Hayden und im Spiel. In die Regeln wird sie bei einem heimlich vom Leutnant organisierten Treffen in der ausgedienten Wetterbaracke am Rande des Militärflugplatzes eingeweiht.

Liebe und Spielleidenschaft

So weit das Ausgangsszenario der von Kapitel zu Kapitel spannender werdenden Geschichte. In Zwischen den Gezeiten geht es um Liebe und Spielleidenschaft, um viel Geld und kriminelle Machenschaften und nicht zuletzt um die Kriegsvergangenheit, von der sowohl Sieger als auch Besiegte schließlich eingeholt werden. Als Meister der Schlussszenen führt Michael Wallner am Ende alle Handlungsfäden in einem großen Showdown zusammen.
Es gibt eine Liebesgeschichte, die gut ausgeht – auch ganz ohne Happy End. Da ist ein scheuer Vater mit der Leidenschaft fürs Kochen, der in seiner politischen Naivität beim Holocaust mitschuldig geworden ist. Da gibt es heimliche Glücksspiel-Treffen, hinter denen sich eine perfekt organisierte Schieber-Mafia verbirgt – ein schon im Krieg entstandener krimineller Ring, der jetzt den ganz großen Coup vorbereitet. Und es geht um Spielschulden: ein hoher Geldbetrag, der genau einen Tag, nachdem er eingelöst wird, von einem auf den anderen Moment wertlos wird.

Das alles wird von Michael Wallner dramaturgisch perfekt entwickelt und gezielt auf den Höhepunkt hin inszeniert. Dabei gelingen ihm immer wieder beinahe sinnbildartige Bilder, die hängen bleiben: Eine Pendeluhr, die beim Hamstern auf der morastigen Wiese umringt von Schafen stehen bleibt. Ein Leutnant, der sich nach nächtlichem Glücksspiel in seinem Rollstuhl in der Dämmerung über das leere Flugfeld schiebt. Ein Päckchen mit einer Perlmuttbrosche von Leutnant Hayden, das Inga während einer Beerdigung durch die Militärpolizei überbracht wird. Und ein traurig-glücklicher Abschied am Hafen von Büsum – ganz nach dem Vorbild des Filmklassikers „Casablanca“.

Filmreife Konzeption

Genauso filmreif wie der Streifen mit Humphrey Bogart ist der Roman von Michael Wallner konzipiert. Nicht ganz zufällig, denn schließlich hat Wallner sowohl als Schauspieler als auch als Film- und Theaterregisseur gearbeitet. Zwischen den Gezeiten ist geschickt erzählt und eine kurzweilige Lektüre für Liebhaber anspruchsvoller Spannung. Wenn einen die Handlung einmal gepackt hat, muss man wissen, wie die Geschichte ausgeht. Da stört es kaum, dass die Figur der Inga nicht ganz stimmig ist, weil ihre Risikofreude und Gerissenheit nicht zum Bild des unschuldigen norddeutschen „Fräuleins“ passen will. Und es ist nicht so dramatisch, dass der geheimnisvolle Leutnant etwas von seiner Anziehungskraft einbüßt, wenn er berichtet, dass er in Schottland als Konditor gearbeitet hat und Spezialist für die Herstellung von „Fruitcakes“ war. Aber so perfekt, wie Michael Wallner seinen Roman arrangiert hat, hat er bestimmt auch diese erzählerischen „Ungereimtheiten“ ganz bewusst eingebaut, um durch diese kleine ironische Subversion die Nähe zum Trivialroman der Kategorie „unschuldiges Mädchen liebt geheimnisvollen Leutnant“ schmunzelnd zu unterlaufen.

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