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Plädoyer für die Fehlbarkeit – Oder ein familiäres Cross-Art-Experiment

Martin Walser: Das geschundene Tier. Neununddreißig Balladen. Mit Zeichnungen von Alissa Walser. Rowohlt Verlag 2007. 90 Seiten.

Sendung vom 01.08.07 im Deutschlandfunk
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Als moderner Balladendichter präsentiert sich der in diesem Jahr achtzig gewordene Romancier Martin Walser in seinem neuen Gedichtband „Das geschundene Tier“ – eine Sammlung nach 1998 entstandener Verse. Die Rolle des Bänkelsängers, meint man spontan, steht dem Autor gut: Im Geiste sieht man ihn mit demonstrativem Pathos seine neununddreißig Balladen vortragen und mit großem Gestus auf Schautafeln zeigen. Aber nur pathetische Tonlage und gestischer Impetus der Gedichte wirken balladesk: Kein klassisches Heldenlied, keine langen Schauergeschichten, keine dramatischen Verse über schicksalshafte Ereignisse, über Liebe oder Tod sind hier zu finden. Statt dessen: kurze Erzählgedichte über Lüge, Folter, Falschheit oder Feindseligkeit, überwiegend ungereimte Vier- bis Acht-Zeiler über das Menschlich Allzumenschliche. Innerhalb dieser ironisch zugespitzten Weltsicht sieht sich das auch nicht gerade unfehlbare lyrische Ich als „Das geschundene Tier“. Die Lüge, so das poetische Subjekt kategorisch, sei schließlich „das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet.“ Die Gedichte sind einerseits satirischer Ausdruck des Leidens am moralischen Mängelwesen Mensch, andererseits ein nicht ganz ernst gemeintes Plädoyer für die Fehlbarkeit, denn: „Alles fälschen heißt, alles verbessern.“ Die mal aphoristischen, mal poetischen oder prosaischen Verse spielen mit dem harten Kontrast von konkretem und abstraktem Vokabular. Dabei entstehen gelungene Bilder wie die „Intensivstation Erinnerung“, aber auch hölzerne Metaphern wie „das Staubsaugergeräusch meiner Seele“. Das oft harte Enjambement der Verse findet seine visuelle Entsprechung in den Illustrationen von  Tochter Alissa Walser, Malerin und selbst Autorin.  Die Zeichnungen beginnen meist auf der Vorderseite eines Buchblattes und ziehen sich bis auf die Rückseite. Nicht immer klar wird der direkte Zusammenhang zwischen Gedichten und Illustrationen. Mit groben Pinselstrichen skizziert Alissa Walser Verbindungslinien zwischen Menschen, stellt vereinzelte Individuen in raumkapselartigen Monaden dar, schließt sie in Kisten und Kästchen ein oder löst menschliche Umrisse in amorphen Formen auf. Die unprätentiöse Leichtigkeit und Dynamik ihres Strichs steht dabei in angenehmem Gegensatz zu den zwar ironischen, aber dennoch apodiktischen Versen des Vaters wie diesem: „Es gibt kein Leben vor dem Tod.“ Die an Kinderzeichnungen erinnernden Strichmännchen Alissas setzen dem „bellenden“ Ton der väterlichen Gedichte eine zarte, kunstvoll unschuldige Melancholie entgegen. Aber Walsers Balladen tragen den Widerspruch auch schon in sich selbst, wenn das lyrische Ich gesteht: „Es gibt nichts, was ich nicht jederzeit widerriefe“ Oder „Wenn ich nicht flüchtete täglich aufs neu / und immer vor mir, könnt ich nicht leben.“ Weit entfernt von jeder altersweisen Abgeklärtheit präsentiert sich das poetische Subjekt als demonstrativ widersprüchlich und von konsequenter Inkonsequenz. Wie die Zeichnungen Alissa Walsers bricht es in verschiedene Seiten auseinander. So großspurig es sich auch in seinen Balladen gibt, Zeilen wie „Der Himmel ist höher als mein Geschrei“ zeigen, dass es sich seiner eigenen Unwichtigkeit und Unvollkommenheit letzlich durchaus bewusst ist. So wundert es nicht, dass es selbst zu poetischen Tönen und wehmütigen Wünschen wie diesen fähig ist: „Am liebsten wäre ich das Ufer / eines Meers, das keinen Namen hat.“ Hier wechselt dann auch der von Feststellungen und Vorwürfen geprägte Indikativ in den lyrischen Konjunktiv. In den letzten Gedichten trägt das lyrische Ich sogar „den Mond im Geweih“ und fühlt, dass es „gefesselt [bleibt] (…) an den schon immer unerfüllbaren Wunsch.“ Insgesamt stellt der Band ein originelles Familien-Kunstwerk dar, in dem sich die ganz unterschiedlichen Temperamente und Tonlagen von Vater und Tochter zu einem mal mehr, mal weniger gelungenen familiären Cross-Art-Experiment verknüpfen.

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