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Der Kritiker als Schöpfer

Oscar Wilde: "Das Bildnis des Dorian Gray", Neuübersetzung aus dem Englischen von Eike Schönfeld, Insel Verlag 2014, 293 Seiten.

Sendung vom 27.07.2014 im Deutschlandfunk
Beitrag hören (Text gesprochen von Kerstin Fischer, Zitate gesprochen von Josef Tratnik)


Zu den Klassikern der Literaturgeschichte gehört der Roman "Das Bildnis des Dorian Gray". In dem Roman beschreibt Oscar Wilde einen Künstler, der ein Selbstbildnis schafft. Und während er selbst ewig jung bleibt, altert stattdessen das Bild. Das Buch ist nun in einer Neuübersetzung erschienen.

Der Künstler ist der Schöpfer aller Dinge, das Leben ein Kunstwerk, jeder Mensch ein Künstler. So könnten die Glaubenssätze einer Kunstreligion lauten, die nach dem Verlust allgemeingültiger Wahrheiten den schönen Schein zum individuellen Maßstab erhebt. Die Gestaltung des eigenen Lebens als Kunstwerk träte hier an die Stelle der Suche nach den letzten Dingen. In der literarischen Figur des Dorian Gray von Oscar Wilde nimmt diese Philosophie  des schönen Scheins fiktive Gestalt an. Wildes einziger Roman beginnt mit der Entstehung eines Kunstwerks: dem „Bildnis des Dorian Gray“. Obwohl es ihm nicht im Mindesten ähnelt, fürchtet der Maler, sein Gemälde von einem schönen Jüngling verrate zu viel von ihm selbst. Denn Dorians Porträt berge nicht nur seine intimsten Geheimnisse, sondern gebe seiner Kunst eine völlig neue Ausrichtung.

Das Atelier war erfüllt von üppigem Rosenduft, und wenn der leichte Sommerwind im Garten zwischen den Bäumen aufkam, wehte zur offenen Tür das schwere Aroma des Flieders oder das feinere Parfum des pink blühenden Dornbuschs herein.
(…) Das mürrische Gemurmel der Bienen, die sich durch das lange, ungemähte Gras drängten oder mit monotonem Beharren um die staubigen goldgelben Hörner des wuchernden Geißblatts kreisten, machte die Stille noch lastender. (…)
Mitten im Raum, an eine aufrechte Staffelei geklemmt, stand das lebensgroße Portrait eines jungen Mannes von außergewöhnlicher persönlicher Schönheit, und davor, in einem gewissen Abstand, saß der Künstler selbst, Basil Hallward (…)
Als der Maler die anmutige und wohlgeformte Gestalt betrachtete, die er in seiner Kunst so geschickt gespiegelt hatte, glitt ihm ein freudiges Lächeln übers Gesicht (…).
„Das ist deine beste Arbeit, Basil, das Beste, was du je gemacht hast“, sagte Lord Henry träge.

Steckt hinter Basil Hallwards geheimer Leidenschaft ein kaum verhülltes homoerotisches Begehren? Die üppige Blumensymbolik und der Vorname seines Modells weisen zumindest in diese Richtung. „Dorian“ bezieht sich nicht nur auf das hellenistische Schönheitsideal dorischer Kunstwerke. Der Name zitiert auch die dorische Knabenliebe. Aber das auf geheimnisvolle Weise lebensechte Porträt erinnert zugleich an den göttlichen Schöpfungsakt selbst. Basil Hallward gestaltet Dorian Gray nach seinem Bilde – einem Künstler-Gott gleich, der sich im Menschen sein eigenes Ebenbild schafft. Nicht nur der Dornbusch weist auf den Künstler als Schöpfergott hin. Auch der Name des Malers ist vom Autor mit Bedacht gewählt: „Basil“ leitet sich ab vom griechischen „basileus“, dem Wort für „König“. Die sublime Parallelisierung von künstlerischem Gestaltungswillen, homoerotischem Begehren und göttlichem Schöpfungsakt wurde von Wildes Zeitgenossen im viktorianischen Zeitalter als das verstanden, was es ist: eine radikale Umwertung aller Werte. Und das gleich im mehrfachen Sinne: in Bezug auf Religion und Philosophie, Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Psychologie.

Der Schöpfung folgt der Sündenfall

 

Der Schöpfung folgt der Sündenfall. Neben dem gottgleichen Künstler und seinem lebendigen Kunstwerk betritt eine dritte Figur die Szene: Lord Harry Wotton. Er tritt in der Rolle des Verführers auf und mimt den kritischen Geist. Lord Henry, wie er im Roman auch genannt wird, lockt den Jüngling in den paradiesgleichen Garten und macht ihm seine Schönheit, aber auch Vergänglichkeit bewusst.

Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts entgegen. Suchen Sie immer nach neuen Empfindungen. (…) Denn Ihre Jugend wird von so kurzer Dauer sein – so kurzer. (…) Dorian Gray hörte ihm mit offenen Augen verwundert zu. Die Fliedertraube fiel von seinen Händen auf den Kies. Eine pelzige Biene summte kurz darum herum. Dann krabbelte sie über das ganze gestirnte Oval der kleinen Blüten. Er betrachtete sie mit jenem seltsamen Interesse an trivialen Dingen, das wir zu entwickeln suchen, wenn Dinge von hoher Bedeutung uns Angst machen oder wir von einer neuen Regung ergriffen werden, für die wir keinen Begriff finden, oder wenn ein Gedanke, der uns erschreckt, jäh das Gehirn bestürmt und uns zur Kapitulation auffordert. Nach einer Weile flog die Biene weiter. Er sah sie in die fleckige Trompete einer tyrischen Winde kriechen. Die Blume schien zu beben und wiegte sich dann sanft hin und her.

Dorian ist elektrisiert. Wie Narziss, der sich im Spiegel des Wassers zum ersten Mal selbst erkennt und sich sogleich in sein eigenes Bild verliebt. In einem kühnen Moment des Hochmuts wünscht er sich ewige Jugend und Schönheit. Dorian betet inbrünstig, sein Porträt möge an seiner Statt altern. Basil fühlt, wie er schon jetzt den Einfluss auf seine eigene Schöpfung unter den Einflüsterungen Lord Henrys verliert. Der Maler greift zum Messer, um sein eigenes Kunstwerk zu zerstören. Doch Dorian hält ihn auf: Sein Porträt zu zerstören, sei wie ein Mord an ihm  selbst. Es ist, als wäre seine Seele in das Bild gewandert. Der Zerfall in Subjekt und Objekt ist damit besiegelt. Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt: Und Dorian lehnt sich in seinem neu gewonnenen Selbstbewusstsein gegen seinen eigenen Schöpfer auf. Noch am selben Abend verabredet er sich mit Lord Henry zur Oper.


Dorian gerät fortan immer stärker unter Lord Henrys Einfluss. Der schöne Jüngling wird zum Geschöpf des geistreichen und redegewandten Zynikers. Lord Henry  ist der Inbegriff eines Kritikers, der aus der Position des Zuschauers mit messerscharfen Sentenzen und beißender Gesellschaftskritik die Welt der Handelnden analysiert. Der noch unbefleckte Jüngling dient ihm als perfekte Leinwand zur Darstellung seiner eigenen radikalen Lebensmaximen. Wie der Nachname „Gray“ überdeutlich signalisiert: Die reine Seele des jungen Dorian ist noch indifferent, farblos und grau. In Dorian kann Lord Henry sein eigenes Handlungsideal gestalten, ohne selbst tätig werden zu müssen. Er benutzt Dorian lediglich als Versuchsobjekt, um an ihm seine Philosophie eines „neuen Hedonismus“ einem Praxistest zu unterziehen.

Ihm war bewusst – (…) Zu einem Großteil war der Junge seine Schöpfung. (…) Mit seinem schönen Gesicht und seiner schönen Seele war er staunenswert. (…) Seele und Körper, Körper und Seele – wie rätselhaft sie doch waren! Die Sinne konnten sich verfeinern, der Geist konnte zerfallen. Wer wollte sagen, wo der fleischliche Impuls endete oder der psychische begann? (…) War die Seele ein Schatten, der im Haus der Sünde lebte? Oder war der Körper wirklich in der Seele, wie Giordano Bruno glaubte? Die Trennung von Geist und Materie war ein Rätsel, ebenso deren Einheit. (…)
Ihm war klar, dass die experimentelle Methode die einzige war, über die man zu einer annähernd wissenschaftlichen Analyse der Leidenschaften gelangen konnte, und Dorian Gray war da wie für ihn geschaffen und verhieß reiche und fruchtbare Ergebnisse. (…) Oft war es so, dass wir, wenn wir glaubten, wir experimentierten mit anderen, dies tatsächlich mit uns selbst taten.

In Wahrheit seziert Lord Henry in seiner psychologischen Studie nicht Dorian, sondern sich selbst. Der Lebenskünstler betrachtet den makellosen Jüngling einfach als schöne Form, in die er hineinlegen kann, was immer er möchte. Dorian wird zum persönlichen Lebenskunstwerk des Kritikers. „Der Kritiker als Künstler“, wie ihn Oscar Wilde in seinem gleichnamigen Essay in den Blick nimmt, wird hier selbst zum Schöpfer. Harry Wotton steht damit für jene Geisteshaltung, in der laut Wilde seit der griechischen Antike über die Renaissance bis zur Aufklärung das Denken in der Auflehnung gegen die Transzendenz kreativ wird. Kritik als Kunst ist für Wilde jene ästhetische Kraft, die aus einem neuen Selbstbewusstsein heraus die Krise des in Körper und Seele zerfallenen Subjekts im künstlerischen Akt  schöpferisch werden lässt. Ganz im Sinne von Nietzsches „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ ist für Wildes Künstler nach dem Tod Gottes und dem folgerichtigen Ausfall jeder allgemeingültigen Wahrheit das Dasein und die Welt nur noch als ästhetisches Phänomen denkbar. Erkennen ist unmöglich. Wahrnehmung wird zur losen Abfolge subjektiver Projektionen, das Ich zum Konglomerat von Nervenreizen und Stimmungen. Keiner weiß das besser als Lord Henry.

Das Leben ist eine Sache von Nerven, Fasern und langsam aufgebauten Zellen, in denen sich das Denken verbirgt und die Leidenschaft ihre Träume hat. Du magst dich sicher fühlen und dich für stark halten. Doch ein zufälliger Farbton in einem Zimmer oder am Morgenhimmel, ein bestimmtes Parfum, das du einmal geliebt hast und das subtile Erinnerungen weckt, eine Zeile aus einem vergessenen Gedicht, auf das du wieder gestoßen bist, eine Kadenz aus einem Musikstück, das du nicht mehr gespielt hattest – ich sage dir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab.

Ästhetik ersetzt Moral; ethische Werte lösen sich auf in Geschmacksurteile. Statt Gut und Böse gelten Schön und Hässlich. Einziger Maßstab der ästhetischen Lebensgestaltung zum individuellen Kunstwerk wird der Stil. Die Parallelen zur philosophischen Gedankenwelt von Wildes Zeitgenossen Nietzsche sind frappant – auch wenn die beiden sich nicht gekannt haben. Und so könnten folgende Aphorismen aus Oscar Wildes Vorwort zu „Dorian Gray“ ebenso von Friedrich Nietzsche stammen.

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.
Ziel des Künstlers ist es, die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen. (…)
Die höchste wie die niederste Ausprägung der Kritik ist eine Form von Autobiographie. (…)
So etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles. (…)
Kein Künstler wünscht etwas zu beweisen. Selbst Dinge, die wahr sind, lassen sich beweisen. (…)
Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich (…)
In Wahrheit spiegelt die Kunst nicht das Leben, sondern den Betrachter. (…)
Sind die Kritiker uneins, ist der Künstler eins mit sich selbst. (…)
Jede Kunst ist vollkommen nutzlos.

Welt des schönen Seins wird zur Wirklichkeit


Wie bei Nietzsche wird auch in Wildes „Dorian Gray“ die Welt des schönen Scheins zur eigentlichen Wirklichkeit. Daher ist es nur folgerichtig, dass Dorian Grays erste abenteuerhungrige Suche nach dem  wirklichen Leben vorzeitig in der Scheinwelt des Theaters endet. Er verliebt sich in die erstbeste Komödiantin einer drittrangigen Londoner Bühne. Dorian hält seine Leidenschaft für Liebe und die hübsche Sibyl Vane für eine große Künstlerin. Für die aus niedrigen sozialen Verhältnissen stammende Sibyl war das Schauspiel bis dahin die einzig wahre Wirklichkeit. Erst ihre echte Liebe zu Dorian öffnet ihr die Augen für die Scheinwelt der Bühne. Doch plötzlich wirkt ihr Spiel falsch und unecht. Tief enttäuscht löst der junge Liebhaber seine Verlobung. Erst am nächsten Tag beschließt Dorian reumütig, Sibyl doch zu heiraten. Aber die Schauspielerin hat sich bereits das Leben genommen. Dorians spontane Schuldgefühle weichen unter Lord Henrys amoralischem Zuspruch schnell erschreckender Gleichgültigkeit.

(…) du musst dir diesen einsamen Tod in der ordinären Garderobe einfach als seltsam schauriges Fragment einer jakobinischen Tragödie vorstellen (…). Das Mädchen hat nie richtig gelebt, also ist es auch nicht richtig gestorben. Für dich jedenfalls war sie immer ein Traum, ein Phantom, das durch Shakespeares Stücke flirrte (…). In dem Moment, als sie das tatsächliche Leben berührte, beschädigte sie es und es sie, und so verschied sie. Traure um Ophelia, wenn du magst. (…) Aber verschwende deine Tränen nicht wegen Sibyl Vane. Sie war weniger real, als sie es sind.“
Stille trat ein. Der Abend wurde im Zimmer tiefer. Lautlos, auf silbernen Füßen, krochen die Schatten vom Garten herein. Aus allem wichen müde die Farben.
Nach einiger Zeit blickte Dorian Gray auf. „Du hast mir mich selbst erklärt, Harry“, murmelte er und seufzte fast erleichtert auf.

Währenddessen hat sich Dorians Porträt zu seinem großem Entsetzen urplötzlich verändert: Unverkennbar stellt er einen neuen grausamen Zug um den sinnlichen  Mund seines gemalten Ebenbildes fest. Sollte sein Wunsch, das Porträt möge statt seiner altern, tatsächlich Wirklichkeit geworden sein? Voller Angst beschließt er, das Gemälde in seinem jahrzehntelang ungeöffneten Kinderzimmer vor seinen und den Augen der Welt zu verschließen.


Doch das Grauen vor seinem hässlichen Doppelgänger im Dachboden wird Dorian auch in den nächsten achtzehn Jahren nie ganz los. Auch wenn er selbst auf wundersame Weise tatsächlich seine ewige Jugend und Schönheit behält. Wie getrieben wirkt seine ständige Suche nach neuen Sinnesreizen. Vorbild seiner Selbstvervollkommnung durch möglichst viele Sinneseindrücke ist der junge Mann aus dem verruchten „gelben Buch“, das Lord Henry ihm am Tag nach Sibyls Tod ans Herz legt. Doch das Leben, das Dorian führt, erscheint alles andere als sinnlich. Umstellt von Preziosen wie Edelsteinen, seltenen Stoffen, exotischen  Musikinstrumenten und historischen Gemälden wirkt er selbst wie ein lebloses Kunstobjekt. Sogar seine zahllosen Beziehungen zu weiblichen wie männlichen Geliebten bleiben kaltherzig. Das erfährt der Leser von Basil Hallward, der Dorian am Tag seiner geplanten Abreise nach Paris aufsucht, um ihm ins Gewissen zu reden. Doch Dorian schiebt die Schuld auf Basil. Voller Wut will er dem Maler zeigen, was dieser mit seinem Kunstwerk angerichtet hat. Er öffnet das verschlossene Zimmer und enthüllt das Bild.

Ein Entsetzensschrei entfuhr dem Maler, als ihn (…) das scheußliche Gesicht auf der Leinwand angrinste. (…) Doch wer hatte es gemacht? Er meinte seinen Pinselstrich zu erkennen, (…). Der Gedanke war monströs, dennoch fürchtete er sich. (..) In der linken Ecke stand sein Name, in langen Lettern aus leuchtendem Zinnober hingemalt.
Es war eine abscheuliche Parodie, eine schändliche, gemeine Satire. Das hatte er niemals gemalt. Und dennoch war es sein Bild. Er kannte es, und ihm war, als hätte sich sein Blut binnen eines Augenblicks von Feuer in stockendes Eis verwandelt. Sein Bild! (…)
„Großer Gott, Dorian, welch eine Lektion!, welch furchtbare Lektion!“ (…) Das Gebet deines Stolzes wurde erhört (…). Ich habe dich zu sehr angebetet. Dafür bin ich bestraft worden. Du hast dich selbst zu sehr angebetet. Wir wurden beide bestraft.“(…) Dorian Gray schaute auf das Bild, und auf einmal überfiel ihn ein unbeherrschbarer Hass auf Basil Hallward (…). Dorian stürzte sich auf ihn und stieß ihm das Messer in die große Ader, die hinterm Ohr verläuft, drückte dem Mann dabei den Kopf auf den Tisch und stach wieder und wieder zu.
Es gab ein unterdrücktes Ächzen und das grässliche Geräusch, wie wenn jemand an seinem Blut erstickt.

Dass sein Geschöpf am Ende selbst Hand an seinen Schöpfer legt, ist die letzte Konsequenz der Auflehnung des kritischen Geistes gegen die Transzendenz, wie Lord Henry sie propagiert. Da ist es nur konsequent, dass mit dem ehemaligen Freund Alan Campbell ein Vertreter der Wissenschaft auf die Bühne tritt und mit seinen  Kenntnissen der Chemie die Leiche vollständig vernichten hilft.
Wie Oscar Wilde den Gedanken vom Tod Gottes hier als Gothic-Novel-Plot präsentiert, ist nicht ohne Ironie. Auch der weitere Verlauf der religiösen Parabel vom „Bildnis des Dorian Gray“ ähnelt in weiten Teilen einer skurril überzeichneten Gespenstergeschichte. In einer verruchten Opiumhöhle am düsteren Londoner Hafen sucht Dorian für kurze Momente seine Tat zu vergessen. Die gruselige Spelunke erscheint wie eine grotesk übersteigerte Projektion seines eigenen Seelenlebens. Genauso wie der ihm in einer finsteren Gasse auflauernde Tod in Gestalt des James Vane. Sibyls Bruder will seine Schwester rächen.

Fühllos, aufs Böse konzentriert, mit beflecktem Geist, die Seele gierig nach Rebellion, hastete Dorian Gray weiter, (…) doch als er in einen düsteren Torweg abbog, (…) fühlte er sich jäh von hinten gepackt, und (…) mit einer brutalen Hand um den Hals gegen die Wand gedrückt.
Wie von Sinnen kämpfte er um sein Leben (…).
„Was wollen Sie?“, ächzte er.
„Sie haben Sibyl Vanes Leben zerstört“, kam als Antwort, „und Sibyl Vane war meine Schwester. (…) Machen Sie ihren Frieden mit Gott (…) Es ist besser, Sie gestehen jetzt Ihre Sünde, denn so wahr ich James Vane bin, werden Sie sterben.“

Doch als Dorian ihm sein junges Gesicht zeigt, glaubt Vane, den Falschen vor sich zu haben und  verschont ihn. Aber Dorian wird seine Todesangst nicht mehr los. Sogar dann nicht, als James Vane bei einer Treibjagd ums Leben kommt. Vane – sein Name kommt vom lateinischen „Vanitas“ und steht für Vergänglichkeit – ist sein persönlicher Todesbote. Dem Tod kann keiner entfliehen. Nicht einmal Lord Henry. Nach der Abschaffung Gottes durch die Vernunft hat sich der Kritiker zum Schöpfer seiner selbst erhoben. Doch den Tod kann auch der klügste und kreativste Kopf nicht wegdiskutieren. Vor diesem Dilemma ist auch Dorian trotz ewiger Jugend und Schönheit nicht gefeit – zumindest, solange er weiß, dass sein Ebenbild altert. Die einzig logische Konsequenz: Dorian muss sein Porträt vernichten.

Er schaute sich um und sah das Messer, das Basil Hallward erstochen hatte. (…) So wie es den Maler getötet hatte, so würde es auch sein Werk töten und alles, was es bedeutete. Es würde die Vergangenheit töten, und wenn die tot wäre, würde er frei sein. Es würde dieses monströse Seelenleben töten, und ohne dessen scheußliche Warnungen würde er Frieden haben. Er packte es und stach damit auf das Bildnis ein.
(…) Der Schrei war in seiner Qual so grausig, dass die verängstigten Diener erwachten und aus ihren Zimmern schlichen. (…)
Als sie eintraten, sahen sie, an der Wand hängend, ein prachtvolles Portrait ihres Herrn, wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, im Wunder seiner erlesenen Jugend und Schönheit. Auf dem Fußboden lag ein Toter im Abendanzug, ein Messer im Herz. Er war welk, runzlig und hatte ein abstoßendes Gesicht. Erst nachdem sie die Ringe in Augenschein genommen hatten, erkannten sie, wer es war.

Fast das komplette Romanpersonal ist jetzt tot, außer Lord Henry. Doch am Ende sind sämtliche Modelle gescheitert: das metaphysische Basil Hallwards, der neue Hedonismus Lord Henrys genauso wie das Experiment an Dorian, in Form eines lebenden Kunstwerks nach ewiger Schönheit zu streben. Was die Geschichte nicht daran hindert, immer wieder von vorn zu beginnen. Liest man noch einmal den Anfang des Buchs,  stellt man fest, dass das geheimnisvolle unaufgeklärte Verschwinden Basil Hallwards dort bereits in der Vergangenheit liegt. Ist Fortschritt also Illusion und unser Dasein „die ewige Wiederkehr des Immergleichen“?


Eine Wahrheit in der Kunst sei etwas, dessen Gegenteil ebenfalls wahr sei. Denn in der Kunst gebe es universelle Wahrheit nicht, schließt Oscar Wilde seinen Essay über „Die Wahrheit der Masken. Eine Bemerkung über Illusion“. Danach wäre  Wildes einziger Roman wahre Kunst. „Das Bildnis des Dorian Gray“ erlaubt nicht nur viele parallele Lesarten. Der Roman treibt auch mit elegant eingearbeiteten unzähligen geistesgeschichtlichen, kunsttheoretischen, literarischen und philosophischen Bezügen souverän sein ironisches Spiel. Hochmodern ist auch die polyphone dialogische Form des Romans. Es ist das große Verdienst der Neuübersetzung Eike Schönfelds, all diese Facetten brillant ins Deutsche übertragen zu haben. Unterschiedliche Ansichten über ein Kunstwerk zeigten, dass das Werk neu, komplex und notwendig sei, so Wilde in seinem Vorwort. Sein Roman ist mehr als das. Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ gehört nicht zufällig zu den grossen Klassikern der Weltliteratur.

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