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Das langsame Vergessen

Young-Ha Kim: „Aufzeichnungen eines Serienmörders“. cass Verlag, Löhne. 152 Seiten.

produziert für den Deuschlandfunk

Beitrag hören (Zitate gesprochen von Jürgen Albrecht vom DLF-Sprecherensemble)

 

 

Das langsame Vergessen ist der Sieg der Zeit über den Tod. Vor diesem Moment fürchtet sich der an Alzheimer erkrankte Serienmörder Byongsu Kim mehr als vor seinem eigenen Tod. Eigentlich wollte der pensionierte Tierarzt seinen Ruhestand genießen. Er lebt alleine in seinem Haus am Rande einer koreanischen Stadt. Konkrete Angaben zu Ort und Zeit bleiben in der Schwebe. Er geht durch seinen Bambushain, schreibt Gedichte, liest Nietzsches „Zarathustra“ und die „Essais“ von Montaigne. Nur ab und zu bekommt er Besuch von seiner Adoptivtochter Tochter Unhi. Doch mit dem stetigen Verblassen der Erinnerung geht dem Ich nicht nur die Welt, sondern das Ich auch sich selbst verloren. Keiner weiß das besser als der Autor der „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ Young-Ha Kim. Durch eine Kohlenstoffmonoxid-Vergiftung verlor er die Erinnerung an seine ersten zehn Lebensjahre.

 

Verlust des „Zukunftsgedächtnisses“

 

Im Vergessen schrumpft die Zeit auf den Augenblick, der keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr kennt. Bis das Ich zuletzt im scheinbar ewig pulsierenden Jetzt sogar seinen eigenen Tod vergisst. Denn mit der Erinnerung geht auch das „Zukunftsgedächtnis“ verloren. Genau vor diesem Moment fürchtet sich der Serienkiller am meisten. Denn der Siebzigjährige hat Angst, seinen wichtigsten Plan zu vergessen, bevor er ihn ausführen kann: seinen letzten Mord.

 

„Ständig muss ich an das Zukunftsgedächtnis denken. Denn mein Bemühen, nicht zu vergessen, gilt der Zukunft. Die Vergangenheit, in der ich Dutzende von Menschen umgebracht habe, kann ich getrost vergessen. (…) Doch die Zukunft, meinen Plan, darf ich nicht vergessen. Der Plan lautet: Jutae Park töten. Wenn ich die Zukunft vergesse, wird Unhi auf schreckliche Weise ums Leben kommen.“

 

Nichts treibt den Serienkiller mehr um, als die Angst, dass seine Tochter vor ihm sterben könnte. Denn er hat eine hohe Lebensversicherung für sie abgeschlossen, die Unhi nach seinem Tod bekommen soll.
Seine erste Begegnung mit Jutae Park war Zufall. Bei einem Auffahrunfall auf Jutae Parks für die Jagd umgerüsteten Geländewagen war ihm aufgefallen, dass Blut aus seinem Kofferraum tropfte. Für Byongsu Kim der sichere Beweis, dass es sich um den aktuell gesuchten Serienmörder handelt. Seither fühlt er sich von ihm verfolgt. Er wendet sich mit seinem Verdacht an die Polizei. Deren Ermittlungen bleiben ergebnislos. Doch eines Tages stellt ihm seine Tochter Unhi Jutae Park als ihren neuen Freund vor. Byongsu Kim ist überzeugt, der junge Serienmörder Jutae Park habe es auf Unhi abgesehen. Verzweifelt fasst er den Entschluss, Jutae Park zuvorzukommen und ihn zu ermorden. Doch es gelingt ihm nicht mehr, seinen Plan auszuführen.

 

Gegen das Vergessen anschreiben

 

Nach und nach gehen die Zusammenhänge verloren. In seiner Hilflosigkeit bleibt ihm nur noch, gegen den Gedächtnisverlust anzuschreiben. Denn er landet immer häufiger an einem fremden Ort und findet ohne seine Aufzeichnungen mit Namen, Adresse und Vorhaben nicht mehr nach Hause zurück. Schon über seine vergangenen Morde führte er Tagebuch, eine Art „Memories of Murder“. Auch der Roman selbst ist eine Art Chronik gegen das eigene Vergessen. Doch der Plan des Ich-Erzählers, gegen das Vergessen anzuschreiben, wird in seiner Aussichtslosigkeit zur tragikomische Farce. Denn mit seinem Gehirn geraten auch seine Notizen mehr und mehr durcheinander. Schließlich schreibt er jede seiner noch so kleinen Alltags-Handlungen auf, um sich selbst daran zu erinnern, was er vorhat. Auch der Roman zerfällt in kleine Gedanken-Schnipsel. Oft sind die Text-Medaillons nur wenige Sätze kurz. Wie hinter einander geheftete Notizzettel.

 

„Eine Wand des Zimmers ist über und über mit Notizzetteln beklebt. Es sind diese bunten selbstklebenden Zettel, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen, die aber überall im Haus herumliegen. (…) Bei den meisten Zetteln weiß ich nicht, was sie bedeuten und warum ich sie hingeklebt habe. Auf einem steht zum Beispiel: »Unbedingt Unhi davon in Kenntnis setzen.« Wovon in Kenntnis setzen? (…) Auf einem steht etwas, was der Arzt gesagt hat.
»Stellen Sie sich einen heranrollenden Frachtzug vor, der nicht weiß, dass die Gleise unterbrochen sind. Was wird wohl passieren? Am Gleisbruch werden immer mehr Züge mit Frachtgut auflaufen, nicht wahr? Es wird ein Durcheinander geben, nicht wahr? Genau das findet in Ihrem Kopf statt.«“

 

Alzheimer sei ein schlechter Scherz, den sich das Leben mit dem alten Serienmörder erlaubt, witzelt der Feingeist mit Sinn für schwarzen Humor. Es ist, sagt er, als hätte der Gott, der ihn lenkt, den Steuerknüppel losgelassen.
Genau das ist der Clou an Young-Ha Kims genialer Erzählung: Indem das Vergessen den Mörder einholt, überlistet die Zeit den Tod. Der Tod hebt sich gewissermaßen selbst auf. Die Erinnerungen werden, wie die Seitenzahlen, immer blasser. Und das Ich gleitet ins Nichts. Bis zur Erlösung im Moment absoluter Leere. Dem buddhistischen Nirvana.

 

Vom Chaos zur Erlösung

 

Mit dem wachsenden Chaos im Gehirn des Ich-Erzählers nehmen auch die Ungereimtheiten und Widersprüche in seinen Aufzeichnungen zu. So dass peu à peu auch sämtliche Gewissheiten des Lesers durcheinander geraten. War Unhi seine Adoptivtochter, wie er sagt? Oder seine Pflegerin, wie der Kommissar behauptet, der ihn wegen einer aktuellen Reihe von Serienmorden verhört? Was ist mit dem gelben Hund, der ihm die Hand einer Frau vor die Füße legt? Und ist Jutae Park tatsächlich ein Serienmörder oder der Polizist, für den er sich während der Ermittlungen plötzlich ausgibt? Eins scheint sicher: Im Bambushain hinter Byongsu Kims Haus findet die Polizei zahllose weitere Leichen. Bis zuletzt stellt er sich die Frage: War ich es? Bevor er sich im absoluten Chaos verliert. Ein Zustand, der am Punkt maximaler Verwirrung in Erlösung umschlägt:

 

„Ich treibe in lauwarmem Wasser. Es ist ruhig und friedlich. Wer bin ich, wo bin ich? In der Leerheit weht ein leichter Wind. Ich schwimme, endlos. Doch komme nicht weg. Diese Welt, in der es weder Laute gibt noch Bewegung, wird immer kleiner. Unendlich klein. Sie wird zu einem Punkt. Zu einem Staubkorn im All. Dann verschwindet auch das.“

 

Der Tod ist ein Serienmörder. Und in der Vielfalt der Todesarten zeigt sich seine Kunst.Young-ha Kim ist mit seinen „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ ein aufregend kluges und spannendes Buch über das Ich, die Zeit und den Tod gelungen.

 

 

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