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Im frei rhythmisierten Redefluss entsteht das Rauschen

Judith Zander: oder tau. Gedichte, dtv Premium 2011. 97 Seiten.
Sendung vom 29.06.2011 im Deutschlandfunk, Moderation Hubert Winkels
http://www.deutschlandfunk.de/im-frei-rhythmisierten-redefluss-entsteht-das-rauschen.700.de.html?dram:article_id=85133
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Die Verwendung der Textausschnitte aus „oder tau“, gelesen von Judith Zander, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags und der Autorin.


Ihr Debüt "Dinge, die wir heute sagten" war der literarische Überraschungserfolg im Herbst vergangenen Jahres. Mit ihrem Roman über ein Dorf in Vorpommern kam Judith Zander auf Anhieb auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Jetzt sind die Gedichte der Autorin, Jahrgang 1980, in dem Band "oder tau" erschienen.

Um das Rauschpotenzial geht es ihr. Um das Rauschen der Welt und um das Rauschen der Sprache. Für das Leben sei es genauso Bedingung wie für die Literatur, so Judith Zander in ihrer Rostocker Poetik-Vorlesung "Störquellen. Poetik des Rauschens". Das Mehrdeutige, das Verstörende, die "Anderwelt" des Rauschens könne bedrohlich sein, aber auch zum Rauschmittel werden. Ein wahres Orchester des Rauschens bietet die Natur. Vielleicht ist sie deshalb seit jeher unerschöpfliche Quelle der Poesie. Nichts steht dafür mehr als das Rauschen der Bäume, meint Judith Zander:

"Bäume sind eine eigene Kategorie. Also wenn man da anfängt, darüber nachzudenken, dass das Pflanzen sind, dann wird einem ganz unheimlich zumute, sodass Pflanzen wirklich solche Ausmaße erreichen können."

Aufgabe der Literatur sei es, solche Unermesslichkeit als Teil des Rauschens der Welt in ihre Texte hineinzulassen und vorher nicht gehörtes Rauschen aus sich selbst heraus zu erzeugen, so die Autorin. Judith Zanders eigene lyrische Methode ist die Überlagerung mehrerer unterschiedlicher oder sogar gegensätzlicher Sprach- und Bildwellen. In ihren meist reimlosen Versen in konsequenter Kleinschreibung und frei rhythmisiertem poetischen Redefluss entsteht das Rauschen vor allem durch die aus der Interpolation entstehenden Überlagerungseffekte. Der Leser selbst soll den kunstvoll erzeugten Raum zwischen den manchmal übergangslos ineinandergefügten, oft hart aneinandergeschnittenen Sprachspuren selbst ausfantasieren. Besonders fantasieanregend sind Judith Zanders kreativ komponierte Wortneuschöpfungen oder -zusammenstellungen - manche intuitiv eingängig, andere sperrig und schwer zugänglich.

Im ersten Zyklus "ab heute bleibt es" verdichtet sie Kindheitserinnerungen zu teils traumverlorenen, teils erdenschweren Bildern. Als "königstochter" präsentiert sich das mädchenhafte Ich zwischen "strauchengen himmeln" spielend; zu einer beinahe vorkindlichen Zeit, als die "wangen noch teig (...) milchgebäck meine stirn (...) auf dem die flagge meines erdbeerblonden namens wehte". So leicht diese Zeilen klingen, so schwer liegen über anderen Versen der tiefe Himmel und die dunklen Äcker der vorpommerschen Kindheitslandschaft. Schon früh phantasiert das elfenhafte Mädchen vom Tod, wie er zwischen Gießkanne und "buntgeschürzte[n] reden (... ) um die kirche kommt mit einer harke".
Bereits junge Frau, begegnet die Sprecherin im zweiten Zyklus "mit einvernehmlichen schlägen" der Liebe. Eins der schönsten Gedichte daraus ist das Gedicht "hotel". Judith Zander selbst liest einen Ausschnitt:

"wollen wir
lieber
ein waldbuch führen logieren wir
lieber im wald ich trage dich
ein unter schlafem namen
komme dir nach
in dein tanngemach das
nadelbett hält uns wach wie
eine unverhoffte haut
(...)"

Ihre ausdrucksstarken Liebesverse schreibt die Autorin in Gedichte lyrischer Großmeister wie Hölderlin, Sarah Kirsch oder Robert Burns hinein. "palimpseste, polnisch rückwärts" lautet der programmatische Titel eines Gedichts. In "grundlegende" bezeichnet sich die Dichtende demonstrativ als "kultur follower", und konstatiert weiter: "verlaufene sind / wir (...) noch nicht / mal am ende negativ zu beschreiben / als das was / sämtliche anderen nicht / sind."

Orte sind Thema des dritten Zyklus' "die pause des raumes". Auch hier Bezüge auf die literarische Tradition. Rolf Dieter Brinkmann steht in "westwärts & außer form" Pate. Schmunzelnd bringt die Autorin die von ihren Versen überlagerten Originalzeilen aus Prosagedichten Brinkmanns in die barocke Sonettform. Ein Goethes Mignon-Lied zitierender Vers gibt einer Gedichtfolge über Jugoslawien ihre melancholisch sehnsüchtige Melodie vor. In ferne, aber auch nahe Räume führen die lyrischen Reisen: nach Skandinavien oder Indien genauso wie zurück "nach hause", "in die pause des raumes".

"vergessen und nachtfrost" heißt der vierte und letzte Zyklus des Gedichtbandes. Wind-und-Wetter-Verse erzählen im Jahreszeitenwechsel vom "sommerschnee", einem "herbsthimmelsgärtlein" mit "dahlienschwester" oder dem "schnee von yesterday" mit seinen "räudigen schneeweißen stellen." Das letzte Gedicht "gründonnerstag" läutet schließlich, noch "die eishaut im mundwinkel", den Frühling ein.

Judith Zander verleugnet in ihren Gedichten nicht die Provinz, aus der sie geboren sind. Die Autorin lässt ihre Herkunftslandschaft als unverwechselbares Grundrauschen sogar ganz bewusst in Verse hinein. Genau das macht unter anderem den eigenständigen Ton ihrer Gedichte aus. Doch Zanders Verse beschreiben keine schlichte vorpommersche Dorfidylle. Ihre manchmal etwas wortschöpfungsverliebten und sprachverspielten Zeilen sind vielschichtig und hochreflexiv. Vom behäbigen Plattdeutsch grundierte Bilder menschenleerer, meeresnaher Landschaft werden überlagert von der Weite ferner Orte, persönliche Erinnerungensverse eingebettet in eine lange lyrische Tradition. Mit diesen wellenartigen Überlagerungen unterschiedlichster Bild- und Bedeutungsschichten, Wort- und Sinnvarianten erzeugt Judith Zander ihre ganz eigene, neue poetische Frequenz im Rauschen der Welt.

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