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Wütende Psalmen eines Atheisten

Serhij Zhadan:“Antenne“. Gedichte. Edition Suhrkamp 2020. 140 Seiten.
Sendung vom 11.11.2020 im Deutschlandfunk, Moderation Angela Gutzeit
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/11/11/serhij_zhadan_antenne_gedichte_dlf_20201111_1618_fdf800b8.mp3
Beitrag hören  (Zitate gesprochen von Oliver L-Fayoumy, DLF-Sprecherensemble)

 

Serhij Zhadan ist so etwas wie ein lebendes Gesamtkunst. Der ukrainische Dichter und Rockstar füllt in seiner Heimat ganze Hallen, wenn er seine dunkle, oft komische, immer berührende Lyrik vorträgt. Prosa-Lesungen mit Performance-Charakter, von suggestiver Musik untermalt. Seit im Winter 2013/14 Gegner und Befürworter des Maidan in seiner Heimatstadt Charkiw aneinandergerieten, engagiert sich Zhadan für eine prowestliche Ukraine und gegen die prorussischen Separatisten im Donbass. Er begleitet Hilfskonvois in das umkämpfte Industriegebiet, veranstaltet Literaturfestivals und gibt Benefizkonzerte mit seiner Band „Sobaky w Kosmosi“ (Hunde im Kosmos). Und er schreibt über den seit Jahren schwelenden Konflikt Gedichte, Erzählungen und Romane. Zhadans letzter Roman „Internat“ über die dreitägige Reise des Lehrers Pascha durch das Konfliktgebiet im Donbass wurde 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Übersetzungen“ ausgezeichnet. Jetzt ist sein neuer Gedichtband „Antenne“ erschienen.


Was tut man, wenn einem die Worte fehlen angesichts des Todes? Beten. Selbst Atheisten erinnern sich bei Beerdigungen an Gebete. Sogar, wenn der Verstorbene Atheist war. Wie Serhij Zhadans Vater, dem der ukrainische Dichter mit seinem Gedichtband „Antenne“ ein poetisches Denkmal setzt. Tief berührt und gleichzeitig amüsiert schildert Zhadan im vorangestellten Text „Das Telefonverzeichnis der Toten“, wie sie als Atheisten auf der Beerdigung des Vaters das Vaterunser beten. Um am Schluss für den Atheisten zu bitten: „Nimm ihn auf in Dein himmlisches Reich!“
„Himmlisches Reich“, schließt der Sohn voller Wehmut und Ironie, sei ein guter Anfang für ein Gedicht. Und beginnt gleich das dritte Poem mit den Versen:

 

„Das himmlische Reich, so reden sie über das Leben.
Über das tägliche Einerlei, über die Zeit,
die ihnen für die Liebe bleibt.
(…)
Der bange Glaube der Grenzvölker,
den eigenen Toten die Aufnahme ins himmlische Reich zu wünschen,
vor allem jenen, die an nichts geglaubt haben:
(…)
sie in den tiefen Schnee hinabzulassen wie ins Meer,
in Booten, beladen
mit den herben Schlehen der Sloboda-Ukraine …

… Mein Vater ist am vierten Januar gestorben.
An diesem Tag fiel dichter fetter Schnee.
Eine Zeitlang bewegten
sie sich
aufeinander zu.“

 

Ostukraine, zweitausendundzwanzig. Vor sechs Jahren begannen die Kämpfe im Donbass, der Heimat von Serhij Zhadan. Der Tod seines Vaters ruft den Schmerz über all die Toten wach, die seither in der Ukraine gefallen sind. Er wolle, so Zhadan im Vorwort, „aus den Grabsteinen Literatur und aus der Erinnerung an die Verstorbenen Gedichte machen.“ Gegen die Angst vor dem Tod. Und um zu zeigen, dass die Trauer auch hell sein kann. Denn die Poesie des Lebens sei identisch mit der des Todes.

 

Wütende Psalmen eines Atheisten

 

Doch was macht ein Dichter, dem die Worte fehlen angesichts des Todes? Beten. Sich der Worte der vergessenen Gebete erinnern. Den abwesenden Gott anrufen, an den niemand mehr glaubt.
Es sind die zynischen Gebete und wütenden Psalmen eines Atheisten, mit denen Zhadan sich hier die Trauer und Angst, Bitterkeit, aber auch Freude von der Seele schreibt. Sein Rückgriff auf christliche Begriffe und Symbole ist voller Melancholie und Ironie. Wenn er mit dem Tod seines Vater auf den Topos „Gott ist tot“ anspielt. Wenn er Dichter und Propheten gleichsetzt und sich damit selbst als Gottes Sohn überhöht. Der vor dem Tod und angesichts des Grauens des Krieges kapitulierende Dichter präsentiert sich als rührend-komische Karikatur. Das Zerrbild eines verzweifelten Atheisten, der mit den Anrufungen des abwesenden himmlischen Vaters in seinen Gedichten ein Palimpsest auf die Heilige Schrift schreibt. Wütend hadert er mit der Hilf- und Ratlosigkeit der Dichtung und sucht absurderweise trotzdem Beistand in der Ohnmacht der Religion.

 

„Ich preise dich, Gott, ich preise dich.
Gepriesen sei dein Talent, heiter über das Schlimmste zu
sprechen.
(...)
Gepriesen sei deine Abwesenheit, die längst
niemand mehr kümmert.
(...)
Gepriesen seien, Gott, deine Institutionen,
deine Kirche, die getragen wird von unserer Weigerung
einzusehen, dass es dich nicht gibt.
Gepriesen seien deine Geistlichen, die
(...) Demut lehren wollten,
tatsächlich haben sie uns Dichtung gelehrt.“

 

Serhij Zhadans zentrale Frage lautet (ähnlich wie Adorno fragte angesichts der Shoa): Kann man noch Gedichte schreiben angesichts des jahrelangen Grauens und der unzähligen Toten des Ukraine-Konflikts? Man kann nicht, man muss, so der Dichter. Denn Dichtung ist die Brücke zwischen Lebenden und Toten. Schreiben kann sie weder lebendig machen, noch das Sterben verhindern. Aber die Verstorbenen in Erinnerung rufen, damit sie für die Lebenden präsent bleiben. Es gilt das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jeder Gefallene ein Toter zu viel ist. Genau das versucht Zhadan mit seinen Gedichten. Ein anarchistischer Mix aus christlichen Gebeten und Klagegesängen mit schonungsloser Kriegsberichterstattung. Hart hineingeschnittene drastische Bilder von Krankenhausfluren, OP-Sälen und Schlachthaus-Szenen stehen im Kontrast zu Zeilen von bitterer Lakonie, die an Bertolt Brecht erinnern. Zhadan hat ihn ins Ukrainische übersetzt. Denn wo die poetische Sprache nicht mehr greift, bleibt dem Dichter nur noch das Gebet und die nüchterne Aufstellung der Gefallenen.

 

„Jeden Morgen erinnern wir alle an die Zahl der Gefallenen.
Nachmittags freuen wir uns über das Sonnenfeuer vorm Fenster.
Über das frische Gras, das die toten Steine durchbricht.
Gegen Abend erinnern wir dann wieder alle
an die Zahl der Gefallenen.“
(...)
Man muss keine Angst haben, grausame Fragen zu stellen.
Und vor unbequemen Antworten muss man auch keine Angst haben.
(...)
Auf die Zahl der Gefallenen hat das
jedenfalls keinen Einfluss.“

 

Statistik des Grauens

 

In den Gedichten seines Bandes „Antenne“ spielt Zhadan mit christlicher Zahlensymbolik. „Schiffsverzeichnis“, der erste Teil des Bandes enthält siebenundzwanzig Gedichte. Die Zahl zwei steht im Christentum für Polarität, sieben für Gottes Heilsplan. Zusammen ergeben sie neun, Symbol der gesteigerten dreifachen Einheit. „Antenne“, der zweite Teil, umfasst vier Zyklen von je zehn Gedichten. Vier verweist auf die göttliche Ordnung der vier Elemente. Zehn symbolisiert Vollkommenheit. Vierzig steht häufig im Zusammenhang mit Glaubens-Prüfungen. Zhadans Gedichte leben vom Kontrast. In seinen Versen konfrontiert er die verzweifelte Beschwörung des Glaubens mit der nüchternen Statistik des Grauens.

 

„ich spreche den Alten die Flüche nach,
vertont als Choralgesang,
singe mit den anderen,
glaube voll Wut.
(...)
Glaube voll Wut an die Literatur,
mit der man die Öfen
in den Kinderheimen heizt.
Die gleiche Sprache, die gleichen Wörter –
für Leidenschaft und für Statistik.
Ein Mai für alle.
Ein Feuer für alle.“

 

Sprech-Gesänge eines literarischen Soziologen

 

Die harte Konfrontation von Klage und Nüchternheit in ihrer Widersprüchlichkeit und buchstäblich himmelschreienden Unvereinbarkeit ist der Sprengstoff der formal und sprachlich eher konventionellen frei rhythmisierten Prosagedichte. Zhadan arbeitet bewusst sparsam mit poetischen Mitteln wie Metaphern und Wortneuschöpfungen in seinen Versen. Die mit ihren suggestiven Wiederholungen und Variationen wie ein provokativer Mix aus Gebeten, pazifistischen Appellen und Songtexten klingen. Krieg zerstört und spaltet, Musik und Dichtung verbinden. „Alles hat mit Musik angefangen“, bekennt das lyrische Ich. Und ruft als Dichter den Vogel zu seinem Wappentier aus. Vögel trotzen dem Krieg mit ihrem Gesang.

 

„Die große Weisheit des Vogelrufs.
Die bittere Berufung als Vogel.
Flügelmaße wie die Maße eines Gedichts.
(...)
Das Herz der kleinsten Schwalbe ist stärker als der Nebel.“

 

Serhij Zhadan verteidigt in seinem neuen Gedichtband „Antenne“ einmal mehr seinen Ruf als literarischer Soziologe der Ost-Ukraine. Der Titel ist sprechend. Die Antenne der Dichter ist ihre Sprache. Sie dient dem Autor zum Empfang von Signalen und als Aufzeichnungsinstrument. Zhadans literarische Analyse ist messerscharf. Seine ist Diagnose bitter. Sein Glaube wütend. Seine Gesänge wehmütig und ironisch zugleich. Die Musik seiner Verse ist universell. Genauso wie der Tod, über den man nicht sprechen, sondern nur singen kann. In Psalmen, die nichts heilen, jedoch den Schmerz lindern können. In verstörend provokativen Sprech-Rap-Versen, die den schmalen Grat zwischen Ohnmacht und Glaube auspendeln.

 

 

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