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Träume aus Orangenpapier

Hanns Zischler: Das Mädchen mit den Orangenpapieren. Galiani Verlag 2014. 112 Seiten.
Sendung vom 16.03.2015 im Deutschlandfunk, Moderation Hubert Winkels
http://www.deutschlandfunk.de/buechermarkt.699.de.html
Beitrag hören  (Zitate gesprochen von Gerd Daaßen, DLF-Sprecherensemble)

 

Papier ist der Stoff, aus dem Elsas Träume sind. Genauer gesagt Orangenpapier. Hauchdünne Blättchen zum Schutz von Zitrusfrüchten. Hält man sie gegen die Sonne, beginnen die aufgedruckten Bilder zu glühen und werden lebendig. So viele fremdartige Motive: Blutorangenfressende schwarze Kater, der feuerspeiende Ätna oder rotgewandete Frauengestalten, eine Lyra in der Rechten, in der Linken einen Zweig voller Zitronen…

 

Sie sind so leicht, dass schon ein Lufthauch, ein Atemzug sie in die Höhe fliegen lässt. (…) Sie buchstabiert die fremdländischen Namen der Händler, ihr wird fast schwindlig von den vielen Göttinnen, Landschaften, Tieren, Pflanzen, Helden und Initialen – und immer wieder „Sicilia“!

 

 

Was für eine exotische Welt! So ganz anders als Marstein im Deutschland Ende der fünfziger Jahre – das kleine Städtchen mit Schlossinternat und Kapelle zwischen steilen Berghängen und dunklem Nadelwald. Hier geht Elsa als Externe zur Schule. Vor einem Jahr, nach dem Tod der Mutter, war sie mit ihrem Vater aus Dresden ins bayerische Marstein gezogen. Noch immer gehört das Mädchen mit dem Hüftleiden nicht ganz dazu. Alles bleibt ihr fremd: Die Enge der Berge, die Internatsschüler, der bayerische Dialekt und der konservative Geist. Elsa sehnt sich nach der Heimat:

 

Über dem Hochjoch steigt eine blütenweiße Wolke wie gemalter Pulverdampf auf. Ein Windstoß fegt durch eine große Pfütze und riffelt das Spiegelbild einer Marmorstatue. Elsa fröstelt, die Eichhörnchen schrauben sich am Stamme einer Platane in die Tiefe. (…) Im Seitenspiegel eines geparkten Motorrads fängt sich ein Lichtstrahl und streift Elsa, die nur leicht den Kopf neigt, um für Augenblicke in den flackernden Blitz einzutauchen. Gleißend hell war das Licht der Elbe gewesen (…)

 

… auch an dem Tag, als ihr Vater sie in Dresden mitten im Unterricht abholte, um ihre Mutter zum Sterben aus der Klinik nach Hause zu holen. Elsa weiß: Es gibt kein Zurück. Aus dem Tod nicht. Und nicht aus ihrem Leben in Marstein. Aber die Obsthändlerin schenkt ihr Orangenpapiere. Und Elsa findet zwei neue Freunde: den Asampauli aus dem Ort und Saskia aus England; ihr Vater ist in Unterwössen stationiert. Zu dritt unternehmen sie eine Ballonfahrt. Der Blick von oben eröffnet ungewohnte Perspektiven. Und vermittelt ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen. Wie mühelos Fliegen doch sein kann, denkt Elsa. Und fühlt sich wie der Zaunkönig in der Sage, der erst unter den Fittichen des Adlers versteckt mit- und nachher sogar höher fliegt als der Meister der Lüfte selbst. Geht Lieben genauso leicht wie Fliegen? Paul und Elsa testen es aus. Sie lieben sich auf einem Bett aus Orangenpapier. Auf einem erkennt Paul Elsa wieder:

 

Ein wildes Mischwesen, halb Mänadin, halb Pegasus mit schwarz geschecktem Pferdeleib, entblößten Brüsten und stürmisch wehendem Haar springt und fliegt es mit schmetternder Fanfare durch einen roten Kreis.

„Eine Zentaurin“, ruft Elsa. Pauli löst ihren Finger, kost ihre Hand, kost ihren Hals und küsst sie auf den Mund.

 

Doch Paul kommt nach einem Radunfall mit Schädelbruch ins Krankenhaus. Und Saskia geht mit ihrer Familie zurück nach England. Aber etwas ist geblieben: Ihr gemeinsamer Traum vom anderen Leben. Elsa bewahrt ihn in einer Kiste mit Orangenpapieren. Sie hat sie mit ihrem und den Namen ihrer Freunde beschriftet.

 

Papier ist der Stoff, aus dem Elsas Träume sind. „Papier“ heißt auch die Lösung des Rätsels, das Lehrer Kapuste am Anfang seinen Schülern aufgibt. Keiner kann es lösen. Auch Elsa nicht. Lehrer Kapuste teilt Elsas Leidenschaft für Papier – egal, ob Orangenpapier oder Bücher.  Und Kapuste ist der Meister absurder Gedankenspiele und Rätsel.

 

Elschen, Elfe oder Sphinx wird Elsa als Kind von der Mutter genannt, weil sie sich nicht entscheiden kann. „No jokes about names!“ hatte Kapuste einmal gesagt. In Elsas Namen steckt nämlich das englische Wort „else“. „Entweder / oder“ ist auch die Schlüsselfrage im von Saskia abgeschriebenen Poem von der Little Sphinx:

 

 

Come along in then, little girl!
Or else stay out!
And in the open door she stands,
And bites her lips and twists her hands,
And stares upon me, trouble-eyed:
“Mother,” she says, “I can’t decide!
I can’t decide!”

 

In der griechischen Mythologie verschlingt die Sphinx jeden, der das von ihr gestellte Rätsel nicht lösen kann. In Zischlers Geschichte vom „Mädchen mit den Orangenpapieren“ kennt auch die kleine Sphinx nicht die Lösung des Rätsels. Verschlingt die Erzählung hier gar ihre eigene Geschichte? In unendlich in sich selbst verdrehter Schleife – wie das anfangs erwähnte Möbiusband?

 

Hanns Zischlers „Mädchen mit den Orangenpapieren“ ist ein allegorisches Märchen. Hinter jeder Figur, jeder Geschichte, jedem Wortspiel verbirgt sich ein kleines Geheimnis. Zischlers Prosadebüt ist eine Rätselgeschichte über das Erwachsen werden und die Poesie von Orangenpapieren, über Musik, Kunst und Literatur als Gegenwelt zum Alltag. Die Sprache seines raffinierten literarischen Gedankenspiels ist ebenso nüchtern wie poetisch. Mit dem geschulten Blick des passionierten Lochbildfotografen löst Zischler Alltagsmomente im Fluss der Ewigkeit auf. Denn Zeit und Tod, weiß der Sprach- und Sprechkünstler des bis ins Unendliche gedehnten Augenblicks, bleiben das eigentliche Rätsel.

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