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Gelegenheitsgedichte

 

Der lange Satz zum kurzen Abschied

 

Hope-to-go. Das Fernweh parkt hier unerlaubt
am Randstreifen, der fast genauso breit ist
wie ein Highway. Reste der amerikanischen
Siedlung, darunter auch die Anglican church
ein Hallenbau aus Ziegelstein mit Sprossen
fenstern in weiß und kleinem Glockentürmchen

 

zwischen Mehrfamilienhäusern aus den sechziger
Jahren, im dritten Stock die Silhouette einer
jungen dunkelhaarigen Frau mit Pferdeschwanz
und weißem T-Shirt, die sich gerade hinter
dem Fenster zum Mülleimer beugt und einen
kurzen Blick runter auf die Straße wirft, wo

 

alles ein bisschen retro ist wie der Drehort
eines Road movies von Wim Wenders bei Alice
in den Städten aus den Siebzigern. Nur wenige
Kilometer rheinaufwärts die Naturkulisse eines
anderen Films mit Hanns Zischler und Rüdiger
Vogler, wo sie in einem Stück Film-Poesie in

 

schwarz-weiß mit einem herrenlosen Ruderboot
auf einer Flussinsel landen wie Huckleberry
Finn und Tom Sawyer über den Mississippi in
die Freiheit, the American Dream, ein Stück
Besatzer-Nostalgie for take away: Hope-to-go.

 

Peak Percussion

 

VeilchenDienstag so blaublau. Scharf gesäumt
vom Wind, der eiskalt in den nächsten Morgen stürmt.
Darunter schiebt der Horizont sich quer und extra
langsam westwärts. Schwindelfrei müsste man sein,

 

denken die Wolken, in deren Schatten Zugvögel
unsichtbar ihren eigenen Schreien folgen, beklatscht
von jungen jubelnden Ästen. Peak Percussion
im Höhenrausch lernen selbst die dicken Zapfen fliegen. 

 

 

Blaues Haar

 

Eine Wartende an der Bushaltestelle wärmt sich
mit geschlossenen Augen in der Wintersonne.
Es gibt kein Zurück für den, der einmal auf
die Rückseite der Sehnsucht schaut. Nicht gelebte
Träume kann man nicht einfach zurückbuchen.

 

Wer bist Du, Rasta-Mädchen mit grau gefärbtem
Haar und rosa Schuhen? Ich fahre langsam
an Dir vorbei und halte mich genau an die
Schrift verkehrsberuhigte Zone. Nichts als
warme Worte zwischen den Zähnen.

 

Kein Durchreisender schaut hier auf die Straße,
wenn er sie überquert. Bedächtig und blind
wie Schlafwandler im Schutz der Zebrastreifen.
Bleiben will ohnehin niemand. Ist Gelassenheit
ein Abbauprodukt der Hoffnung?



Allerheiligen

 

Novembernebel
So zart und undurchdringlich
grüßt uns der Himmel.
Tief im Wald spielen junge Bäume
Verstecken. Die Alten
blättern lautlos vor sich hin.
Schwer benebelt vom destillierten
Laub. Leicht schwankend und
mit trüben, kurzsichtigen Augen
sehen sie gerade bis zur nächsten
Biegung. Dort seh ich meinen Vater
gehen. Auf hohen Beinen und leicht
gebeugt, mit dem typischen Hüftknick
alter Männer, die ihre Beine sachte
vorwärts schieben, als trügen sie
eine Wanne voller Wasser. Sein linkes
Bein zieht er leicht nach seit
dem Schlaganfall. Der erste
Abschied, Jahre vor seinem
Tod. Als wäre er am Leben
geht er heute noch durch
meine Träume. So nah wie jetzt, wo
sein Schatten im Nebel verschwindet. 

 

 

Sendeverbot


Ein Seilzug ins Himmelhochblau
pendelt im leichten Wind
steinentlang bis ins Irgendwooben.
Zwischen restaurierten Burgmauern
prüft ein Filmteam geschwätzig die Kulisse
auf Kameratauglichkeit. Im Hintergrund
Steine klopfen. Tief unten
legt sich der Rhein in die Kurve
vor den üppigen Linien der Eifelhügelkette,
die nichts weiß von den diplomatischen
Verwicklungen, die der türkische
Sportminister mit dem Sendeverbot
seines Interviews mit der Deutschen Welle
ausgelöst hat. Es wird ein heißer Tag,
sagt der Wetterbericht.

 

Flüssige Hitze

 

Es ist das Jahr der Kohlweißlinge.
Heute, wo die Hitze flüssig wird, schrauben sie sich
im Hochzeitstanz umeinander und taumeln
unter dem Schatten durch die Spätsommerblüten.
Über der Baumsilhouette huschen
fünf Vögel im Synchronflug vor einem Wolkengebirge,
das ins Blau hinein wächst und wie ausgekämmt
langsam wieder verdunstet. Auf den höchsten Ruten
der Trauerweide, deren schlanke Zweige sich in den Himmel biegen,
wippen zwei Tauben. Die Stille wartet
auf den erlösenden Donner, der ausbleibt,
schon seit Stunden. Der Wind trägt Brandgeruch im Haar.
Die Konturen der Dinge zeichnen sich schärfer
in den überbelichteten Tag, dem nichts bleibt,
als auf den Abend zu warten.

 

Fliegengewicht

 

Schlägt keine Waage aus, wenn Du Dich auf sie setzt.
Wiegt gar nicht schwerer das Tablett
mit dem ich Dich hinübertrage.
Fliegengewicht!
Sitzt zwischen Marmeladengläsern Du so still
dass fast ich glaub, Du lebst nicht mehr.
Auch als ich mich Dir mit dem Finger näher
bleibst unbeweglich starr Du auf dem Fleck.
Erst als ich an den Flügel rühr
seh ich Dich tippeln.
Schau her, ruf ich,
und halt die offene Hand Dir hin:
Du krabbelst voll Vertrauen hinein.
Ich setze sanft zurück Dich
auf Deine zarten Beinchen. Und stell mir vor,
Du seist ein Mensch als Fliege
im Transit in ein besseres Leben.

 

 

Himmelsstrich


Ein Flieger zieht einen kurzen hellen Strich
ins Restblau eines sonnigen Tages,
der sich herbstlich kühl
in die Dämmerung hinein verabschiedet.
Im Tiefflug rufen die Schwalben
sich ein "Bis morgen!" zu.
Aus den Hecken zwitschern Amseln
im ersten Schlaf. Ein letztes Räkeln
müder Spätsommerblätter und
leises Knistern aus dem Pampasgras.
Ein Säugling weint, der Nachbar kramt in der Garage
und eine Straßenbahn zischt bremsend auf den Schienen.
Drinnen Fußball auf Stadiongrün, draußen leuchten alle Farben
einen kurzen Moment lang noch einmal kräftiger,
bevor sie im Abendgrau versinken.
Von irgendwoher riecht es nach Rauch.
Die Pfirsichblätter zeichnen sich immer schwärzer
als japanische Kalligraphien in den Himmel.
Das Fernsehbild zeigt jetzt eine Szene aus "Das Leben des Bryan".
Sofort habe ich "Always look on the bright side of life" im Ohr
und sehe die Gekreuzigten dazu swingen. Kein Abendrot.
Der Mond unsichtbar im Rücken. Der Geruch des feuchten Grases
erinnert mich an glückliche Campingtage und
Kochen unter freiem Himmel. Mit windigen Nächten,
in denen das Meer über die Düne zu kommen schien
und die Pinien über dem Zelt so wütend rauschten,
dass es war, als würde man in ihren Kronen mit
hin und hergerissen im unruhigen Schlaf.

 

Auf hoher See

 

Ich nenn ihn Seemann.
Denn es ist, als trüge er
Das Meer in sich, so fremd erscheint
Der feste Boden unter seinen Füßen.
Graubärtiger Matrose, Walfänger mit langem Haar:
Aus welchem Buch nur kam er zu mir an Bord?
Wo ist sein Seesack und wo
Das ferne Ziel, das er mit stumpfem Blick
Vor jedem seiner Schritte sieht?
Schau nur, hinter seinen flatternden Hosenbeinen
Erstreckt der Asphalt sich weit bis zum Ozean!

 

 

Schwankende Welt


Als lüde er die ganze Welt zum Tanz,
Der verwirrte Alte mit dem beschwingten Schritt
Auf dem Gehweg der Trabantenstadt.
Die Hände weit oben in den Himmel kreisend, tanzt er
Nach einer Musik, die nur er hört.
Sein zahnloser Mund antwortet
Stets lächelnd auf Fragen, die keiner ihm stellt.
Regen und Sonne, heiß und kalt sind ihm eins.
Die Gehwegplatten bedeuten ihm seine Welt.
Im Rhythmus seiner Schritte misst er die Zeit,
Die keinen Stillstand kennt. Nur selten,
Wenn jemand ihn anspricht, lehnt er sich
Schaukelnd, als stünde er auf einem Schiff
Bei hoher See, an den Masten
Einer Ampel, und blinzelt zweifelnd
In die fremde schwankende Welt. 

 

 

Aderlass

 

Der Wettergott bestellt
Die Wolken zum Aderlass
Und fordert den Tribut vom ganzen Monat
In nur wenigen Stunden.
Das Rauschen wird zum Soundtrack früher Junitage.
Und in den Pausen?
Die ausgewaschene Sonne,
Ein matter Himmelssilberling
Im Pfützenspiegel,
zahlt heute nur mit Kleingeld.  

 

 

Rabenfrau


Rabenfrau.
Ich höre mich antworten
Auf Fragen, die Du mir nicht stellst.
Schwarzgefiederte,
Ich seh Dich nicht.
Doch Du schaust mich an
Dunkel und unergründlich.
Man sagt, Du blickst in die Zukunft.
Mir scheint, Du siehst nicht einmal
Dich selbst.

 

 

Später Winter



Rote Beeren vor Tannengrün
Erinnern sich kaum noch
An den letzten Sommer.
Frühling!
Schreit das Rotkehlchen.
Schlüsselblumen schmeißen
Ihr Hellblond ins dunkle Moos
Und zwinkern dem Schnee zu.
Der schmilzt nur so dahin
Im Landregen. 

 

 

Eis auf die Hand


Ein Eis auf die Hand
Als Unterpfand
Für mehr
Als ein bisschen Leben.
Zu wenig eben.
Die Waffel leer,
Bevor das Eis gegessen.
Aufs Ganze versessen.
Paris ist kein Fest
Fürs Leben, wenn’s einen nicht lässt. 

 

 

Fliegende Ameisen


Tag der fliegenden Ameisen.
Hörst Du, wie sie mit ihren kleinen Flügeln schlagen?
Ein letztes Mal
vor jenem warmen Abendregen,
den man schon riechen kann,
bevor er fällt
Aus tiefen Wolken
Unter denen Schwalben heute ihr Manöver fliegen
im Zickzack, das sie, sich kreuzend,
in die Dämmerung schreiben.

 

 

Schwarze Schmetterlinge


Tal der schwarzen Schmetterlinge
Flatternde Schattenrisse
Über dem weißen steinigen Bachbett
Der kleinste Stein ist so groß wie meine Hand.
Die Sonne schneidet das Tal in zwei Hälften.
Meine Seele kippt mal nach links, mal rechts.
Der rechte Fuß ein Stückchen Kohle
Der linke Fuß ein kleiner Fisch
Lehmbraun und fast durchscheinend
Still und wartend steht er in der Strömung.
Dort, wo das Licht vordringt
tief hinunter auf den Forellengrund.

 

 

Blonde Stunde

 

Es schlägt die blonde Stunde. Zur Mittagszeit blinzelt
Die Sonne träge aus ihrem Wolkenkissen. Das Weinlaub lächelt,
Tief errötend, zurück. Hellgelbe Fenchelblüten greifen nach
Den Schultern und Pinienzweige grüßen mein Haar.
Wenn die Knie den wilden Rosmarin streifen, dunkelt
Sein Duft tiefer nach. Das trockene Flussbett aus weißem Stein
Legt eine helle Spur in den Wald. Noch auf den Höhen kann ich
Seinen grünen Atem riechen, den der Abend oft bis weit hinunter
Ans Meer begleitet. Ins Land der vielen Winde, das heute still
Und ein wenig schläfrig im blonden Licht schlummert.

 

 

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