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Brief an unseren schwerst-mehrfachbehinderten Sohn

 

"Alles im grünen Bereich"


Kaputt ist nie nur ein bisschen. Kaputt heißt „entweder oder“. Kaputtes wird repariert oder weggeworfen. Was kaputt ist, geht nicht mehr. „Es geht nicht mehr!“ Das war mein erster Gedanke beim Aufwachen. Und es war der letzte, wenn ich zu Bett ging. Es war mein tägliches Mantra. Viele Monate und Jahre lang. Von dem Tag an, an dem Du bei uns warst.

 

Wie war das, als Du zu uns kamst? Kaum eine Elle groß und leicht wie ein Brot. Deine Augen waren schwarze Murmeln, Deine Arme rudernd wie ein Astronaut in der Schwerelosigkeit. Ich legte Dich mir auf die Brust. Und alles war gut.

 

Das sagten auch die Ärzte. Vier Wochen lang. Bis zum letzten Tag, wo Du alleine trinken konntest. Nur noch ein allerletztes Mal wiegen, messen, horchen. „Alles im grünen Bereich!“ Ein letzter kurzer Blick in die Augen. Seltsam. Die hatte sich bis jetzt niemand angesehen. Noch am gleichen Tag schickte man uns in die Augenklinik.
Das Entsetzen hat einen langen Atem. Es ließ uns warten. Es ist dunkelblau und starrig wie das gestärkte Klinikleinen, das sie um deinen winzigen Körper wickelten. Eng und fest, damit Du still hältst. Das Entsetzen ließ unseren Schweiß aus allen Poren brechen. Und es ließ die Milch aus meinen Brüsten schießen, bis sie platzten. Als hätten wir Dir damit helfen können. Als hätten wir uns damit helfen können. Das Entsetzen ist feige. Es sagte „hoch pathologisch.“, nicht „Ihr Sohn ist blind.“

 

Ohne Deine Hände bist Du blind. Du zeichnest, Deine Hand weit geöffnet, mit dem Grat zwischen Daumen und Zeigefinger, die Konturen meiner Hand nach. Du wanderst weiter, bis in die tiefen Bögen zwischen meinen Fingern. Du sagst mir: Deine Hände sind Deine Hände, nur für mich. Du liebst sie ab. Ich öffne sie und gebe Dich frei. Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis wir sie berühren durften, ohne dass Du sie sofort weg zogst. Noch länger, bis Du Deine Hand für eine Weile in unseren Händen liegen ließest.

 

Von einem Tag auf den anderen schien alles kaputt. Egal, was wir uns erhofft hatten; nichts galt mehr. Ab sofort war unser Leben ein andauernder Ausnahmezustand. Bis heute. Ich will mich nicht mehr erinnern. Nicht an die endlosen Wartezeiten, nicht an das Auf und Ab in den Krankenhausfluren, nicht an die düsteren Behandlungsräume, nicht an das Weinen, die Angst, das Vielleicht, ja, nicht einmal mehr an die Hoffnung. Zehn Prozent Sehfähigkeit. Mit viel Glück. Es gebe Kinder, die damit sogar Fahrrad fahren gelernt hätten. Ich will mich nicht erinnern. Nicht an die Panik während der Operationen, das Abpumpen der Milch alle vier Stunden. An jedem Ort und zu jeder Zeit. Auch beim Warten im leeren Krankenzimmer während der alles entscheidenden OP. Ich will mich nicht erinnern. Nicht an die bedauernden Mienen der Ärzte, den Aufwachraum und den Monitor, der zeigte, wie sich Dein Puls beruhigte, sobald wir Dir die Hand auf den Kopf legten. Nicht an den Anästhesisten, der auf mein Weinen nur die eine Antwort fand: „Aber er hat doch Sie!“

 

Dein Jetzt kennt kein Später

 

Ich liege neben Dir. Du schlingst Dein linkes Bein um meine Schenkel. So kann ich Dir nicht davonlaufen, sagst Du mir damit, ohne dass Du es merkst. Du pendelst wie ein Uhrwerk in Deinem eigenen Takt vor Dich hin. Mal drehst Du Deinen Kopf fragend nach hinten und suchst nach meiner Wange. Manchmal wandern Deine Hände zu meiner linken, die auf Deinem Bauch ruht wie ein schläfriges Tier, das sich mit Dir in Deinem Rhythmus wiegt.

 

Unsere Hoffnung ist kaputt. Die Ärzte schicken uns von Untersuchung zu Untersuchung. Ohne, dass sie etwas finden. Du bist blind. Ansonsten hast Du nichts. Davon aber ziemlich viel. Warum Du nicht sitzen, stehen, laufen und sprechen lernst, weiß niemand. Keiner redet von „geistiger Behinderung“. Erst nach zwei Jahren heißt es „Schwere Entwicklungsstörung“.

 

Du bist jetzt zehn Jahre alt. Und Du bist immer noch nicht ganz auf unserer Welt. Du sprichst Deine eigene Sprache, die nur Du ganz verstehst. Du lebst Deinen Rhythmus, dem wir nicht folgen können. Für Dich sind vierundzwanzig Stunden ein Tag. Und Deine Nacht hat zwölf Stunden. Dass Jetzt kein Später kennt, weiß ich erst, seit Du bei mir bist. Hunger ist jetzt. Bauchgrimmen ist jetzt. Schmerz ist jetzt. Müdigkeit ist jetzt. Freude ist jetzt. Du sperrst den Mund auf, Du weinst, Du gähnst, Du lachst. Jetzt und jetzt und jetzt und jetzt. Jetzt ist immer sofort. Jetzt kennt keine Geduld. Warten ist für Dich ein Wort ohne Sinn.

 

Die Zeit ist kaputt. Sie misst sich von einer schlechten Phase zur nächsten. Diese kommen oft und bleiben gerne. Manchmal über Wochen. Das Untersuchungskarussell dreht sich im Leerlauf. Jedes Mal wieder neu. Auf Seiten der Ärzte kompetente Ratlosigkeit. Wir selbst zum Nichtstun verurteilt. Wir warten, hoffen, verzweifeln, hoffen noch einmal, warten, verzweifeln, warten, warten. Irgendwann ist es vorbei. Irgendwann war es immer vorbei. Aber „irgendwann“ kann sehr lange dauern. Die Zeit wird zur zähen, grauen Masse. Oft weiß ich nicht einmal mehr den Wochentag. Der Alltag wird zum Überlebenstraining. Essen, duschen, schlafen sind Herausforderungen, an denen wir jeden Tag scheitern. „Nebenher“ auch noch zu arbeiten, ist eigentlich undenkbar. Niemand fragt danach.

 

Ich nähere mich ganz langsam Deinem Gesicht. Du hältst inne und wartest, dass meine Nase Deine Nase berührt. Du fasst in mein Haar, ziehst mich zu Dir heran und erspürst mit geöffnetem Mund meine Nase. Bevor Du mich mit beiden Händen von Dir weg schiebst. Du wendest Dich ab. Und drehst Dich zurück. Ich zieh Dich dicht zu mir heran und drücke Dich für einen kurzen Moment an meinen Oberkörper. Ich lass Dich frei. Du bleibst. Und lässt Dich noch mal umarmen. Du kicherst. Mit Deinem ganzen Körper.

 

Die Welt ist Dir nicht genug

 

Unsere Lebensqualität ist kaputt. Als Du geboren wirst, wohnen wir im dritten Stock ohne Aufzug. Die Stufen werden von Jahr zu Jahr mehr. Die Wohnung lässt weder die Anschaffung eines Rollstuhls, noch eines Pflegebettes zu. Die Wohnungssuche scheint aussichtslos. Wir suchen acht Jahre lang. Wo wohnt man ohne Stufen? Welche Wände sind dick genug, um Deine nächtlichen Geräusche zu dämmen? Wie findet man eine Umgebung, die so still ist, dass Du über Tag ungestört schlafen kannst? Das Wohnungsamt hat auf Tausende von Wohnberechtigungsscheinen eine Handvoll Wohnungen zu vergeben. Meist in sozialen Brennpunkten. Von Maklern hören wir: „Ich selbst als Mensch bin ja sozial eingestellt. Aber dem Vermieter kann ich keinen Mieter zumuten, der mit seinem Rollstuhl die Türen verkratzt.“

 

Die Welt ist Dir nicht genug. Du bist ständig auf der Suche nach Neuem. Ohne Pause. Du bewegst Dich im Liegen wie ein Akrobat. Aber Du verstehst nicht, was Aufsetzen heißt, wie Stehen geht und wofür es gut sein soll, seine Füße im Stand auf die Erde zu stellen. Deine Füße sind Dein zweites Paar Hände. Mit denen Du tastest, streichelst, die Du mit Deinen Händen umliebst. Du hast Jahre gebraucht, um sie zu finden. Noch länger, um Sie als Deine eigenen zu begreifen. Du bist immer in Bewegung. Und Du bist zu jeder Zeit ganz bei Dir. Genau hier und genau jetzt. In jeder Sekunde.

 

Der Raum ist kaputt. Kürzeste Entfernungen werden für uns unüberwindlich. Ungeteerte Wege, steile Straßen, Pflasterstein-Strecken sind mit Dir nicht passierbar. Treppen sowieso. Jeder kürzeste Ausflug muss bis ins Kleinste geplant werden: Rollstuhl, Essen, Trinken, Wickelsachen. Wo können wir parken? Können wir Dich irgendwo lagern? Wie lange lässt Dein Rhythmus uns Zeit? Planen mit Dir ist, als wolle man mitten im Meer eine Welle festnageln. Jede größere Reise müssen wir wochenlang vorbereiten. Wie eine Antarktis-Expedition. Von Jahr zu Jahr werden es mehr Dinge, die wir mitnehmen müssen. Ohne Caravan geht nichts. Für Dein speziell für Dich angefertigtes Reisebett geht’s sogar nur noch mit Dachgepäckbox. Unser Radius schränkt sich immer weiter ein. Wir bleiben. Immer öfter. Wir bleiben so lange, bis wir allmählich das Gefühl haben, dass wir bleiben wollen.

 

Hier ist nur, so weit Du greifen und rollen kannst. Aber mit Deinen Ohren bist Du überall. Auch da, wohin Du alleine niemals kommst. Du schläfst. Ich gehe auf Socken in Dein Zimmer. Stehe lautlos an Deinem Bett. Sofort drehst Dich auf den Rücken und öffnest Deinen Mund. Und signalisierst Durst. Kaum spürst Du die Flasche mit der Trinknahrung an Deinen Lippen, greifst Du die Flasche mit beiden Händen und hältst sie fest. Im Schlaf. Bis zum letzten Zug. Der Latex-Sauger muss das Geräusch machen, mit dem Du den letzten Schluck aus der Flasche saugst. Vorher gibst Du die Flasche nicht frei. Zum Schluss küsse ich Dich auf Deine Wange. Du wischst Dir den Kuss ab. Theatralisch gründlich. Du räkelst Dich wohlig und drehst Dich von mir weg. Auf Deinem Gesicht zeichnet sich ein Schmunzeln ab.

 

Du machst die Welt zu Deinem Echo

 

Unsere Freiheit ist kaputt. Zumindest das, was die meisten Freiheit nennen. Nichts geht mehr ohne Dich. Nicht ein Schritt. Du bestimmst jede Sekunde unserer Tage und unserer Nächte. Die meisten Termine können wir nicht einhalten. Wegen Dir. Wir nehmen uns immer weniger vor. In Konzerte, Ausstellungen, Kino, Theater gehen wir bald gar nicht mehr. Wenn wir doch einmal einige Stunden für uns haben, geht es uns wie Gefangenen auf Hafturlaub. Das Gefühl der Freiheit in diesen Momenten ist ebenso so stark wie absurd. Eine Autofahrt mitten durch die Kölner Innenstadt in der Rush-Hour. Für jeden Normalsterblichen ein Horrortrip. Für mich pure Erholung. Das Gefühl der Freiheit ist so überwältigend, dass ich vor mir selbst erschrecke. Nichts ist mehr selbstverständlich für uns. „In Ruhe frühstücken“, „einfach nur duschen“, „Fernsehen mit Ton gucken“. Einfach nur die alltäglichsten Dinge einmal ungestört tun können. Ohne fremde Hilfe fast unerreichbar. Das bedeutet für uns Freiheit.

 

Wie laut die Stille sein kann, weiß ich erst, seit Du bei mir bist. Und dass jedes Ding einen eigenen Klang hat, auch. Dinge existieren überhaupt für Dich nur, wenn sie einen Klang haben. Jeder Raum wird von Dir einem Soundcheck unterzogen. Fremde drehen sich bei Deinen Geräuschen erschreckt um. Du orientierst Dich nur durch ihr Echo. Jeder Gegenstand wird von Dir als allererstes beklopft. Manche Dinge bleiben zunächst stumm. Bis Du ihnen durch Kratzen oder Scratchen doch noch ihr typisches Geräusch entlockst. Hall und Vibration sind für Dich das Größte. Du erfühlst sie mit Deinem ganzen Körper: dem Kopf, der Wange, Deiner Zunge. Du erkennst Dinge an ihrem Echo, ihrem Geruch und Geschmack. Wenn wir neben Dir liegen, stiehlst Du uns die Reiswaffeln aus der Hand. Du findest sie wieder, egal, wo sie hinfällt. Du weißt immer genau, wo Deine Teeflasche steht. Und holst sie Dir, ohne zu tasten, mit sicherem Griff. Mit der Teeflasche vollführst Du Kunststücke. Übergibst sie von der einen in die andere Hand, drehst sie um hundertachtzig Grad in die korrekte Trink-Position und rollst mitsamt der Flasche im Mund auf den Bauch.

 

Unsere Kontakte gehen kaputt. Schleichend. Aber unwiderruflich. Wer zweimal absagt, hat bald keine Freunde mehr. Nach kurzer Zeit gibt es für uns nur noch Ärzte, Schwestern, Therapeuten, Hilfsmittel-Lieferanten und Lehrer. Wer uns sehen will, muss Dich mit in Kauf nehmen. Viele sind nicht dazu bereit. Sie sagen es nicht. Sie meiden uns. Den anderen wollen wir Dich nicht zumuten. Wir selbst vermeiden es, Freunde einzuladen. Unser Alltag mit Dir ist wie das andauernde Austarieren eines fragilen Gleichgewichts. Eine kleine Störung oder jede weitere Person kann es gefährden. Unsere Familien sind verstört. Auch nach all den Jahren noch. Niemand traut sich. Man sieht sich anfangs noch auf Familienfesten. Später besuchen wir auch diese nicht mehr.

 

Mein Herz schlägt doppelt

 

Dein Leben ist Rhythmus. Du lebst nach Deinem eigenen Takt. Du machst auf jedem Stuhlbein Musik. Du findest überall Dinge für Deine Klopfkonzerte. Metallrohre, Regalböden, Parkett. Du bist unermüdlich auf der Suche nach neuen Klängen. Du liebst alles, was Saiten hat. Das Echo beim Klopfen ist mit dem Körper spürbar. Genauso wie ihre Vibration. Auf meiner Gitarre hast Du zupfen gelernt. Ganz gezielt zupfst Du einzelne Saiten. Mit dem Daumen, mit dem Zeigefinger. Du zupfst immer wieder den gleichen Ton. Oder Du gehst die Tonfolge entlang. Du scratchst einzelne Saiten. Klimperst hohe Töne jenseits des Griffbretts, wo die Saiten zwischen der Mechanik wie Elfenmusik klingen. Du streichst mit der ganzen Hand sanft über alle Saiten. Klopfst mit dem Handrücken darauf. Wir kaufen Dir eine Ukulele, eine Kinderzither, eine Klangwiege. Eine Kantele für den Rollitisch. Du zupfst, klopfst, brummst Deine Musik. Du machst Die Welt zu Deinem eigenen Echo.

 

Ich erinnere mich nicht mehr, wie es vor Dir war. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es ohne Dich sein kann. Ich bin ich, nur noch durch Dich. Ich sehe mit Deinen Ohren. Ich fühle mit Deinen Händen. Ich höre mit Dir den Klang der stummen Dinge. Ich folge dem Rhythmus Deines Klopfens. Und lese Deine Musik als Dein eigenes Echo auf die Welt. Ich bin untauglich geworden für das normale Leben. Ich lebe mit Dir im Gegenrhythmus. Kopfüber zur Welt. Mit dem Ohr auf der Erde, den Himmel unter den Füßen. Vieles ist dabei kaputt gegangen. Nicht mehr reparierbar. In guten Momenten bin ich froh darüber. „Kaputt“ heißt dann nicht „Es geht nicht mehr“. Sondern: Erfinde Dich neu! Geliebter Sohn, Du hast mir gezeigt, wie es geht! Ich reise in drei Schritten um die Welt. Und sehe in einer Pfütze das ganze Meer. Jede schöne Sekunde erlebe ich als vollen Tag. Mit Dir bin ich mehr geworden. Vor Dir war ich nur halb. Mein Herz schlägt doppelt, seit Du bei mir bist.

 

Die Schönheit des Zufalls

 

Irgendwann habe ich begonnen, kleine bunte Quadrate zu häkeln. Das geht, im Gegensatz zum Stricken, fast ohne jedes Geräusch. Nur wenn ich mit der Schere den Faden zerschneide, ist ein leises Zischen zu hören. „Frauenlob, Solingen“ steht auf der silbernen Haushaltsschere. Ich lege den Faden zwischen die silbernen Schnittflächen und bemühe mich, ein möglichst kleines Geräusch zu machen. Trotzdem schrickst Du auf und wackelst ein paarmal hin und her. Deine linke Hand, wie immer, wenn es Dir schlecht geht, bis zu den zweiten Fingerknöcheln im Mund. Ich erstarre in meiner Bewegung. Halte still, bis Du Dich wieder beruhigt hast. Erst dann wage ich es, eine neue Garnrolle aus der Holzkiste zu holen. Ich bin gespannt auf die nächste Farbe, die ich, ohne hinzuschauen, nach dem Zufallsprinzip aus der Kiste fingere. Für mich ist es wie Mandalas häkeln. Ich freue mich jedes Mal auf die neue Farbe, die ich aus der Kiste fische. Der Zufall macht den besonderen Reiz aus. Ich staune über die eigenwillige Schönheit jedes Quadrats, das aus jeweils vier Farben besteht. Die Schönheit des Zufalls. Gönne ich mir zwischendurch einmal, die Farben selbst zusammenzustellen, bin ich enttäuscht vom Ergebnis. Vielleicht, weil es so vorhersehbar erscheint?

In mehreren Monaten häkle ich hunderte von Quadraten. Als ich die Teile schließlich zu einer riesigen bunten Patchwork-Decke zusammenfüge, mogle ich ein von mir komponiertes Quadrat darunter. Es stört. Es stört mich so sehr, dass ich das Quadrat, das sich mitten in der Decke befindet, wieder heraustrenne. Um es durch ein neues, nach dem bewährten Zufallsprinzip gehäkeltes zu ersetzen. Ich staune. Das Ergebnis ist perfekt. Perfekt wie der Zufall. Wie der Zufall, durch den Du zu uns gekommen bist. Durch den Du bist, wie Du bist. Ein Zufall, der mir in manchen Momenten wie ein geheimer Plan erscheint.

 

An der Haustüre höre ich leises Klopfen. Alle, die uns kennen, wissen, dass das kleinste Geräusch den Dich aufwecken könnte, wenn Du schläft, und Du dann stundenlang weinst. Vertraute klopfen deshalb erst einmal vorsichtig an. Oder kündigen ihr Kommen per Whatsapp an. Das Handy steht ohnehin meistens auf lautlos. Auf unserem Festnetz-Telefon ruft so gut wie niemand mehr an. Das Risiko ist einfach zu groß. Dennoch gibt es immer wieder Menschen, die zu uns nach Hause kommen. Sie wissen, es kann sein, dass wir sie gleich wieder wegschicken müssen. Sie kommen trotzdem. Menschen wie die Kinderkrankenschwester, die, so oft sie es neben ihrer Arbeit schafft, Dich bei uns zu Hause cranio sacral behandelt. Ich staune jedesmal wieder, wie Du Dich unter ihren Händen entspannst. Ich bitte sie herein. Wir flüstern. Sie bewundert meine gerade fertiggestellte Patchwork-Decke. „Wie lange hast Du daran gesessen? Wie viel Zeit hast Du für ein Quadrat gebraucht?“ Jeder fragt das. Die Decke ist riesig und über zwei Kilo schwer. Ich stutze. Überlege. Ich weiß es nicht. Die Frage ergibt für mich keinen Sinn. Eine Antwort wäre für mich ohne Bedeutung. Die aufgewendete Zeit. Sie spielt für mich keine Rolle. Ich lebe in einer anderen Zeitzone. Wo man Zeit nicht aufrechnet. Ich staune selbst. So weit habe ich mich von einer Wirklichkeit entfernt, die den Wert der Dinge danach bemisst, wie viel Zeit sie uns kosten?

 

Ich lege mich auf die Bodenmatte. Strecke mich lang auf dem Rücken aus. Diesmal bin ich dran. Andrea legt ihre Hände unter meinen Nacken. Sie hat sie jahrelang sterbenskranke Kinder begleitet. Und immer wieder erlebt, wie die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt. „Cranio sacral kann die Kinder nicht heilen. Aber sie macht ihr Leid erträglicher“, sagt sie. Ich spüre nur den leichten Druck ihrer Fingerkuppen. Und fühle nach nur wenigen Sekunden, wie ein intensiver Wärmeschwall langsam meine Wirbelsäule hinunter fließt. Alternative Heilmethoden wie diese kannte ich vor Dir nicht. Aber an Dir sehe ich auf den ersten Blick, dass sie wirken. Ich fühle jetzt , wie die Wärme bis zu meinem Steißbein wandert. Sie fließt weiter die Beine hinunter. Und scheint an meinen Füßen wieder herauszuströmen. Meine Fußsohlen prickeln. Ich merke, wie sich mein Körper unter Andreas Händen entspannt. Vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Das Gefühl ist intensiver, je mehr mein Kopf loslässt. Ich bin jedes Mal wieder verblüfft. „Wie machst Du das nur?“ „Ich weiß es selbst nicht genau. Aber es funktioniert“, sagt Andrea und lächelt. Ich frage mich, wieso wir unseren Köpfen mehr glauben als unseren Körpern?

 

An etwas müssen wir doch glauben

 

Wir glauben, wir hätten alles im Griff. Wir müssen es glauben. An etwas müssen wir doch glauben. Wenn nicht an Gott, dann eben an uns selbst. Nur dass wir den Glauben an uns selbst für Wissen halten. Wir kennen die Wahrheit. Wir wissen schließlich, wie alles funktioniert. Das macht uns die Wissenschaft glauben. Sie ist im Besitz der Wahrheit. So weiß die Medizin alles über uns Menschen. Sie kann alles erklären. Und fast alles heilen. Fast.

 

Ich weiß nicht mehr, wie alt Du jetzt bist. Ich weiß nicht einmal mehr, warum wir diesmal hier sind. Aber es muss im Hochsommer gewesen sein. Kurz vor meinem und nur wenige Tage vor Deinem Geburtstag. Es ist schwülheiß. Wie bei Deiner Geburt. Auch jetzt sind wir im Krankenhaus. Und wir sind froh, hier zu sein. In der Kinder-Onkologie. Obwohl Du nicht krebskrank bist. Vielleicht ist es eine Mandelentzündung oder ein Harnwegsinfekt. Wir suchen meist lange, bis wir die Ursache finden. Wenn wir sie finden. Du kannst uns ja nicht sagen, wo es weh tut. Es ist nie bedrohlich. Aber immer dramatisch. Vor allem die Nächte können wir zu Hause alleine nicht bewältigen. Eine Nachtwache steht uns nicht zu.

 

Es ist still hier. Still und dunkel. Wir haben ein kleines, dunkles Einzelzimmer am Ende des Ganges im Isoliertrakt. Jalousien schützen vor der Sonne, aber nicht vor der dumpfen Hitze. Links in der Ecke steht Dein gelbes Metallgitterbett. Es klingt wie eine Mischung aus Vibrafon und Steeldrum, wenn Du darauf klopfst. Wir polstern es mit Handtüchern aus, die wir durch die Stäbe flechten. Über dem Bett Neonlichter, die nach oben strahlen. Die Schwestern legen Nierenschalen aus grobem grauem Eierkarton darauf. Die Patienten vertragen nur gedämpftes Licht. Gegenüber eine Hygienezeile mit Edelstahlwannen zum Baden und Waschen. Darauf Reinigungs- und Desinfektionsmittel. Davor verschiedene Eimer für schmutzige Wäsche, medizinischen Abfall und Restmüll. Der Platz dazwischen reicht gerade für eine Sonnenliege. Wie sie hier auf jedem Zimmer steht. Für die Eltern. Denn die meisten verbringen mehrere Wochen mit ihren Kindern auf dieser Station. Und die Tage sind lang. Gefüllt nur mit Angst und Warten. Auf die Schwester, die Medikamente, den nächsten Tropf, die Ärzte, eine neue Untersuchung oder die aktuellen Werte. Es ist unerträglich heiß und stickig. Unser Fenster im Isolierzimmer kann man nicht öffnen. Die Luft darf nicht heraus. Sie wird gefiltert wieder ins Zimmer zurückgeleitet. Auch die Flurtür vor den Isolierzimmern bleibt meist verschlossen. Außer Ärzten und Krankenschwestern dürfen nur die Eltern der Patienten die Schleuse passieren. Man hört den Unterdruck, wenn jemand sie öffnet und schließt.

 

Jenseits des Vorraums, den ich wie eine Zeitschleuse passiere, sind alle Türen und Fenster geöffnet. Das Gebäude ist alt und ungedämmt. Klimaanlagen gibt es keine. Der Durchzug lässt die Hitze ein wenig erträglicher erscheinen. Alle Zimmer sind überbelegt. Viele schöpfen Luft auf dem langen Gang. Eltern mit ihren Säuglingen auf dem Arm. Kleinkinder auf Dreirädern oder Rollern. Mit Tropfs an mannshohen Gestellen, die offensichtlich für Erwachsene gedacht sind und die die Mütter ihren kahlköpfigen Kindern hinterherschieben. Manchmal sind es auch die Väter. Ich erinnere mich an einen Drucker. Gedrungen, schwarz gekleidet, die Haare kurz rasiert und Tatoos auf den Armen. „Ich habe meine Druckerei verkauft, nachdem wir vom Hirntumor unserer Tochter erfahren haben.“, erzählt er mir. Er spricht mit lang gezogenem „i“, wie es die Sauerländer tun. „So etwas steht eine Mutter alleine nicht durch. Die Therapien dauern zu lang. Das schafft man nur zu zweit. Aber die Zeit ist ja absehbar.“ Seine etwas bieder wirkende blonde, hagere Frau, die ich mir so gar nicht an seiner Seite vorstellen kann, ist gerade mit der Tochter unterwegs. Ich höre die Kleine mit ihrem Gefährt über den Flur sausen. Wie immer fröhlich plappernd. Nur einmal sehe ich das Mädchen weinen. In den Armen ihres Vaters. Die liebevolle Sanftheit, mit der er sie hält, passt so wenig zu seinem Äußeren. Das so wild und wütend ist wie die Trauerfeier ein paar Jahre danach. Von der man mir später erzählt.

 

Die Kleinen bekommen für jede Therapie oder Untersuchung bunte Holzperlen zur Belohnung. Die sie an Nylonfäden aufreihen und dann an ihren Tropfs befestigen können. Manche dieser Ketten sind über einen Meter lang. Die Kinder spielen, lachen, sind frech und weinen. Wie zu Hause auch. So scheint es zumindest. Jetzt sind sie eben krank. Aber sie werden wieder gesund. Das kann gar nicht anders sein. Der Tod bleibt für sie abstrakt. Anders als für ihre Eltern. Und die jugendlichen Patienten. Denen der Tod auf den Schultern sitzt wie ein unsichtbarer schwarzer Vogel. Er schaut ihnen zu, wie sie schweigend ihre Tropfs über den Flur schieben. Die kahlköpfigen Jungs in ihren Shorts. Oder die jungen Frauen, noch ein wenig Flaum auf dem Kopf, die, wegen der unerträglichen Hitze nur noch mit BH und Slips bekleidet, völlig ungeniert ihre mageren Frauenkörper zeigen. Es kümmert sie nicht. Ihr unbewegter Blick ist nur auf die eigenen Füße gerichtet. Sie schleichen lautlos und wie blind über den Gang. Völlig unbeeindruckt vom russischen Vater, der mit Unterhemd, Bermuda-Shorts und Flipflops dem kahlköpfigen Kleinkind mit Tropf hinterherrennt. Vorbei am muslimischen Vater in weißer Kutte und Kopfbedeckung, der mit bloßen Füßen nur kurz die Tür öffnet, um von den Ärzten die aktuellen Blutwerte seines kleinen Sohnes zu erfahren. Er singt ihm oft arabische Lieder vor. Man hört seinen orientalisch hin- und her mäandernden Singsang noch auf dem Flur. Bis in den Speiseraum, wo die voll verschleierte Mutter, die mit ihrem krebskranken Kleinkind im Strampler und zwei Geschwistern schweigend im Spielzimmer sitzt. Zusammen mit der griechischen Großfamilie, die gerade für das Geburtstagskind, den kleine Steljos mit den großen Beulen und Narben am Kopf, kitschig bunt verzierte Kuchen auftischt. Sie singen ein Geburtstagslied. Patienten und Schwestern singen mit.

 

Auch ich bleibe an meinem Geburtstag auf Station. Meine Mutter hat extra alle fünf Geschwister zu Kaffee und Kuchen zu sich nach Hause eingeladen. „Ich kann hier nicht weg“, sage ich ihr am Telefon. Und habe ein schlechtes Gewissen. Die Feier findet ohne mich statt. Es kommt auch keiner zu Besuch. „Es ist ja auch eine Stunde Fahrt“, sage ich zu mir. Und merke erst später, wie unglaubwürdig das klingt.

 

Seelen-Klänge

 

Erkennen heißt unterscheiden und untergliedern, vermessen und vergleichen. Was, wenn Schuld bereits mit dem ersten Vergleich beginnt? Kinder vergleichen von Anfang an. Gnadenlos. Wer kann etwas besser als der andere? fragen sie. Die Eltern sind ihr Maßstab.


Das ist auch bei kranken und behinderten Kindern nicht anders. In diesem Wettkampf um Leistung haben wir von vorneherein verloren. Egal, ob wir uns mit Eltern schwer sehbeeinträchtiger Kinder treffen. Oder ob wir uns mit Eltern geistig behinderter Kinder austauschen. Du schießt mit seinem Behinderungs-Mix ohnehin fast überall den Vogel ab.


„Was erwarten Sie von mir?“ fragt die Klangtherapeutin der Sehfrühförderung mich beim Kennenlernen.

„Dass es Milo gut geht. Dass er genießen darf.“ antworte ich ohne nachzudenken.


Sie sieht mich überrascht an. Meine Antwort ist offenbar sehr selten. „Die meisten Mütter wollen, dass ihre Kinder hier in der Sehförderung etwas lernen! Dass sie weiterkommen!“


Ab diesem Augenblick sind Monika und ich Freunde. Jede Woche fahren wir von nun an zur Musiktherapie. Ob im Schlaf oder wach, ob weinend oder entspannt. Sehr oft ist nicht viel möglich. Weil Müdigkeit oder schlechte Tagesform nicht viel zulassen. Aber das wenige ist für uns sehr viel.


Auf Klangschalen reagierst Du sofort. Ihre starke Vibration zieht Deine Hände und Füße magisch an. Mit dem ganzen Körper kannst Du die Klangwellen spüren. Sogar Kopf und Lippen wollen das Metall erfühlen. Selbst im Schlaf. Im Klangbad, eingekreist von Schalen unterschiedlicher Größe und Tonhöhe, entspannt der ganze Körper sichtbar. Das Aufregendste: In der größten Klangschale zu sitzen! Die Vibration geht durch und durch. Nur noch übertroffen von der Klangwiege, in der Du nicht nur liegen, sondern auch schaukeln kannst.


Du lernst Klangkisten, Sansuelas und asiatische Gongs kennen. Wir lauschen gemeinsam, wie Rahmentrommeln, Hapi-Drums und Kantelen klingen. Du lernst zu klopfen, trommeln und zu zupfen.

 

Wenn gar nichts geht, weil die Tagesform nicht mehr zulässt, machen Monika und ich für ihn Musik. Spielen Gitarre und Querflöte. Uns macht es Spaß, und unser kleiner Musikfreund genießt es sichtlich. Du strahlst, wiegst sich im Takt hin und her und lauschst mit allen Sinnen.


Mehrere Jahre machen wir zu dritt Musik. Mit der Zeit werden wir zu einem perfekten Trio. Unser Zusammenspiel ergänzt sich. Wir freuen uns auf jede Stunde.


Du lernst unglaublich viel. Das Meiste bringst Du Dir selbst bei. Die Klangschalen mit den Fingerknöcheln in Schwingung zu versetzen. Durch die Hörlöcher der Klangwiege selbst in die Saiten zu greifen. Die Trommel laut zu schlagen, leise zu streicheln oder zu schaben und mit den einzelnen Fingern über das Trommelfell zu klimpern. Wie Du aus eigenem Antrieb immer neue Klangwelten für Dich erschließt, bringt uns ins Staunen.

 

Manchmal frage ich mich im Stillen, wer hier eigentlich von wem lernt. „Milo ist mein Zen-Meister!“ sagt Monika.

 

Nichts ist selbstverständlich

 

Nichts ist selbstverständlich. Nicht einmal das Atmen. Wie können wir das nur immer wieder vergessen? Dabei haben sich mir die Bilder eingebrannt. Auch, wenn ich erst Monate nach unserem Aufenthalt gemerkt habe, wie tief. Ich sehe sie noch genau vor mir. Obwohl es jetzt schon über sechs Jahre her ist, dass ich mit Dir auf der Station für schwerstkranke Kinder war. Der Station „Lichtblicke“.


Das Bild vom neunjährigen Mädchen im Rollstuhl, das mir mit seiner Mutter vor dem Eingang begegnet. Ihr Anblick fährt mir sofort in die Knochen. Rund um den Mund hat sich ein rotbraunes Ekzem gebildet, von der Nase bis zum Kinn und weit in die Wangen hinein. Erst bei näherem Hinsehen sieht man, dass es sich um getrocknetes Blut handelt. Ihre komplette untere Gesichtshälfte ist offenbar verkrustet. Ich schaue weg. Sehe erst später wieder hin. Als wir uns im Aufenthaltsbereich der Station wiedertreffen, bemerke ich die frischen Blutspuren auf dem beigen Strickpullover. Die Öffnung für den Kopf wurde offenbar grob aufgeschnitten, damit die Wunden beim An- und Ausziehen nicht immer neu aufreißen. „Blasenbildende Hauterkrankung“ heißt ihre Diagnose. Wenn sie sich nach dem Essen den Joghurt vom Mund abwischt, kommt unter der Kruste das rohe Fleisch zum Vorschein.

Intellektuell ist sie altersgerecht entwickelt. Ihr „Nein“, das man immer wieder über den ganzen Flur hört, schreit sie jeder Schwestern entgegen, die ihr Zimmer betritt. In Wahrheit gilt es ihren Schmerzen. Weinen sehe ich sie nie. Nur ihre junge Mutter erzählt mir davon. Oben im für Eltern reservierten Bereich. „Am schlimmsten sind die Nächte. Wenn ihre Schmerzen so groß sind, dass auch die höchste Dosis Morphium nicht mehr hilft. Dann gräbt sie weinend die Hände in ihr Stofftier.“ Ihr Bericht klingt nüchtern. Den Rest erzählen mir ihre rot geränderten Augen. Gestern habe sie versucht, ihre Tochter mit Hilfe der Krankenschwester zu baden. Sie erzählt, wie die Schwester sie danach gefragt habe, wie es für sie gewesen sei. „Wenn nur ihre Schreie nicht wären …“, habe sie, sagt sie mir, geantwortet. Wie hält man das als Mutter aus? frage ich mich. Mich selbst sehe ich bei dieser Frage nicht.

 

Alle hier haben bereits eine lange Odyssee hinter sich. Für die meisten ist die Station ihre letzte Hoffnung. Die Ärzte versprechen viel. Zu viel. Halten können sie nur wenig. Mit einer hohen Dosis Schlafhormon würdest Du endlich die Nächte durchschlafen, sagen sie uns. Drei Wochen lang steigern wir die Dosierung auf das fünfundzwanzigfache des Normalen und führen Schlafprotokoll. Drei Wochen lang bleibst Du jede Nacht wach. Am vorletzten Tag setzen wir alles ab. Die folgende Nacht schläfst Du durch.

 

Johannes dagegen kann man helfen. Er wird, wie die meisten hier auf Station, per Magensonde ernährt und gewickelt. Er ist sechzehn und ein gut aussehender Junge. Meistens sitzt er in seiner Sitzschale. Bewegungslos. Nur, wenn er hustet, bäumt sich sein ganzer Körper dabei auf. Ein Husten-Assistent soll ihm das Abhusten erleichtern. Es funktioniert. „Als Kleinkind“, erinnert sich seine Mutter, „konnte er sogar einmal krabbeln.“ Seitdem hat er sich von Tag zu Tag weiter zurückentwickelt. „Heute kann ich nicht einmal mehr sagen, ob er noch merkt, ob ich ihn wickle oder jemand Fremder.“ Ihr Mann besucht sie jedes Wochenende. Er arbeitet als Radiologie-Assistent und schiebt Nachtschichten, damit sie als Beamtin weiter tageweise arbeiten kann. Die Väter fahren weite Strecken, um ihre Frauen hier stundenweise abzulösen. Ansonsten sind die Mütter mit ihren Kindern meist alleine. Entgegen der Versprechungen der Station. In der Regel mehrere Wochen lang. Auch, wenn sie durch Angebote wie Musiktherapie entlastet werden sollen, bleibt die Hauptpflege doch an ihnen hängen. Besuch von anderen Familienangehörigen erhält hier keiner. Auch wir nicht. Die Familien halten Distanz. Auch zu Hause. Offensichtlich ist das nicht nur bei uns so. Johannes Mutter schaut kurz beiseite, als sie mir erzählt: „Bei meinen Schwiegereltern steht ein Familienfoto im Wohnzimmer. Mit sämtlichen Kindern und Enkeln. Nur Johannes fehlt.“

 

Jakobs Mutter studiert Maschinenbau. Seit über sechzehn Jahren. Ihr Sohn ist jetzt fünfzehn. Sie muss ihn sehr jung bekommen haben. Jakob kann sogar ein paar Brocken sprechen. Und mit Unterstützung selbstständig essen und trinken. Er ist groß und schwer. Sein Rollstuhl mit Sitzschale, die zusätzlich zum Korsett den Rücken vor weiterer Verformung schützen soll, ist riesig. Aber er kann damit ein paar Meter alleine über den Flur rollen. Trotzdem sehe ich ihn so gut wie nie ohne seine Mutter. Seine epileptischen Anfälle sind schwer und unberechenbar. „Ich kann nicht einmal alleine Auto fahren mit ihm. Es muss immer eine Begleitperson neben ihm sitzen“, erzählt mir Nadja. „Jakob braucht Betreuung rund um die Uhr. Jeder Anfall kann lebensgefährlich sein.“ Nur im Kinderhospiz oder hier könne sie es wagen, Jakob allein zu lassen. Als sie und ihr Mann gerade gemeinsam zu einem freien Wochenende aufgebrochen sind, sehe ich Jakob vor das Schwesternzimmer fahren. Er sieht mich fragend an: „Papa kommt? Aua Bein.“

 

Das Mädchen neben uns im Zimmer höre ich lange, bevor ich es zum ersten Mal sehe. Sie stöhnt. Es ist ein kurzes, hohes, gepresstes Stöhnen im Sekundentakt. Pausenlos. Das Mädchen ist vielleicht fünf Jahre alt und ist hübsch. Wäre nicht ihr ganzer Körper unter höchster Anspannung. Fast alle Gliedmaßen sind unnatürlich überstreckt. Nur, wenn sie sedierende Medikamente bekommt, lässt die Anspannung für eine Weile nach. Sie ist hier alleine. Drei Wochen lang. Ihre Eltern sehe ich erst am letzten Tag, als sie ihre Tochter abholen. Ich lese in ihren Augen, wie schwer es ihnen fällt. Sie alleine gelassen zu haben. Und sie wieder mitzunehmen.


Benedikt hört man dagegen über den ganzen Flur. Auch er ist für einige Wochen alleine hier. Es ist eine beunruhigende Mischung aus Stöhnen und einer Art Brunftlaut. Er ist bereits achtzehn Jahre. Seine Stimme ist tief wie die eines jungen Mannes, obwohl sein Körper nur aus Haut und Knochen besteht. Die Unterschenkel ragen aus den Strickbündchen der Gießwein-Pantoffeln wie zerbrechliche Äste. Man weiß nicht, warum er manchmal so stark lautiert. Ich frage mich, ob die Laute vielleicht auch nur auf uns so beängstigend wirken. Vielleicht ist es einfach seine einzige Möglichkeit, Schmerz, aber auch Zufriedenheit auszudrücken. Manchmal ist er jedenfalls ganz still. Zum Beispiel, wenn eine Krankenschwester seine Hände massiert. Dann habe ich den Eindruck, dass seine angespannten Gliedmaßen ein wenig weicher werden. Manchmal meine ich sogar zu sehen, wie er lächelt. Obwohl seine Gesichtszüge unbeweglich bleiben und seine Augen, wie immer, ins Nichts zu sehen scheinen.

 

Die Sache mit dem "Qi"

 

Ich stehe frei im Raum. Ich warte auf etwas. Etwas, das ich noch nie erlebt habe. Soll ich ihm trauen? Ich schwanke. Erst nach hinten. Dann nach vorne. Ich selbst bewege mich nicht. Ich werde bewegt. Irgendetwas schiebt mich sanft nach vorne. Und zieht mich wieder leicht nach hinten. Gerade so weit, dass ich nicht kippe. Nur ein leichter Zug im Oberkörper.

 

Ich drehe mich um. Dr. Gao steht hinter mir. Gut drei Meter entfernt von mir, direkt vor der Küchenzeile seines Mini-Appartements. Ich sehe noch seine ausgestreckten Arme. Die offenen Handflächen zeigen in meine Richtung, als würden sie etwas Unsichtbares von sich wegschieben.

 

Dr. Gao ist Qi-Gong-Meister. Sein Qi, mit dem er mich aus drei Metern Entfernung ins Wanken bringt, trainiere er täglich, erklärt er uns bescheiden lächelnd. Als sei das tägliche Training das einzige Geheimnis der mir etwas unheimlichen Demonstration. Ich bin weit entfernt davon, an übersinnliche Kräfte zu glauben. Klar, als Kind war ich beeindruckt, wie Uri Geller bei Wim Thoelke auf magische Weise Gabeln verbiegen konnte. Aber das hier i s t nichts Übersinnliches. Kein Spuk. Sondern meine reale, nicht eingebildete Erfahrung, an der ich keinen Augenblick zweifele.

 

Sofort habe ich eine lebhafte körperliche Vorstellung davon, einen sinnlichen Begriff, wie es sich für unseren schwerbehinderten Sohn anfühlt, wenn Dr. Gao ihn behandelt. Wie Dr. Gao mit seinem Qi Kräfte auf ihn wirken lassen kann, ohne ihn zu berühren. Und plötzlich wundert mich nicht mehr, dass Du mit Deinen Körperbewegungen auf Dr. Gaos über ihm schwebenden Händen reagierst wie ein Metallstück auf die Kraft eines Magneten. Wenn Dr. Gao seine Hände auf Deinen Bauch legt, legst Du Deine Hand auf seine und folgst seinen Bewegungen. Wer lenkt hier wen? frage ich mich im Stillen. "Milo hat ein sehr angenehmes Qi!" sagt Dr. Gao wie eine Antwort auf meine nicht gestellte Frage und lächelt. Und ich begreife: Seine Therapie ist ein stummer Dialog.

 

Zwei Jahre lang fahren wir alle vierzehn Tage mit unserem Sohn zu Dr. Gao. Er behandelt Dich auf seinem Bett in seinem Ein-Zimmer-Appartement, dass er nur die Woche über bewohnt. Er arbeitet hier als Heilpraktiker. Am Wochenende fährt er zur Familie. Dr. Gao erzählt uns, dass sein Studium in Deutschland nicht anerkannt wurde. Berichtet von seinem Wechsel vom Schulmediziner zur Traditionellen Chinesischen Medizin. Patienten nur mit Medikamenten zu behandeln, sei ihm zu wenig gewesen. Der traditionelle chinesische Mediziner sei so etwas wie ein Gärtner, der den ganzen Menschen und nicht nur Teilbereiche im Blick habe. Essen sei sehr wichtig, um gesund zu bleiben und Krankheiten zu heilen. Bei jedem Besuch hält Dr. Gao neue Kochrezepte für uns parat. Als Geschenk gibt er uns regelmäßig von seiner Frau selbst gemachte chinesische Teigtaschen mit nach Hause. Als habe er uns zu danken.

 

Dabei freue ich mich auf jeden Abend. Die Besuche sind wohltuend für uns, und sie zeigen mir, dass mehr Kräfte auf uns wirken, als wissenschaftlich messbar sind. Zwei Jahre lang fahren wir alle vierzehn Tage mit Dir zu Dr. Gao. Als ich ihn einmal bitte, er möge uns Eltern doch auch mit seinem Qi behandeln, meint er nur schmunzelnd, das tue er doch schon die ganze Zeit.

 

Chinese des Schmerzes - Schreiben erlöst

 

Du weinst. Über Deiner Lippe erscheint das doppelte Fältchen, das sich auch zeigt, wenn Du über beide Wangen lachst. Ich liege an Deinem Rücken auf Deiner Liegefläche am Boden. Wir haben Dich aus Deinem Bett geholt. Du warst die Nacht wach. Seit gestern früh hast Du nicht geschlafen. Du hast Dein linkes Bein über meins geschlagen. Dein Atem geht stoßweise. Ich darf Dich nicht trösten. Wenn ich meine Hand auf Deinen Kopf lege, schiebst Du sie weg. Ab und zu schläfst Du sekundenweise ein. Dann weinst Du wieder auf. Durch das kleinste Geräusch.Ich verfluche den grollenden Müllwagen. Jeden einzelnen Schlag der nahen Kirchenglocke. Sie schlägt acht Mal. Die Nachbarskinder, die zur Schule aufbrechen. Dein Weinen tätowiert mein Herz mit tausend nadelfeinen Stichen.

 

Meine Augen suchen im Blick in den Himmel Rettung. Eine hellblaue Raute über der niedrigen Hauswand unseres Bungalows, dessen Flachdach von einem schmalen Metallband eingefasst wird, ein wenig überschnitten von dem Dachabschluss der Nachbarn. Im Fenster spiegelt sich der Himmel als Trapez. Ich ziehe die Konturen mit meinen Augen nach. Erkenne darin ein konstruktivistisches Foto, das von einem Edward-Hopper-Gemälde überlagert wird. Kondensstreifen zeichnen feine Linien in das Geviert und flocken zartrosa aus. Himmels-Wasserzeichen. Ein Schock Raben durchquert das Himmelsquadrat. So niedrig, dass man ihre Flügelfedern meint, zählen zu können. Eine andere Gruppe fliegt in großer Höhe in den nicht sichtbaren Horizont. Ein einzelner Vogel kreuzt ihre Flugbahn. Er hebt und senkt sich. Beinahe sieht es so aus, als würde er über den Himmel hüpfen. Ein Flummi auf einer unsichtbaren Himmelslinie.Die nackten Äste des Pfirsichbaums zeichnen sich ihre schwarzen Konturen in den Himmel. Ein letztes Blatt hängt bewegungslos ganz oben in den Ästen. Die Knospen sammeln schon Kraft für den fernen Frühling. Eine japanische Tuschezeichnung, die sich über Foto und Hopper-Bild legt.

 

Du schläfst kurz ein. Ich spüre, wie Du beim Einschlafen zuckst. Keiner weiß, wie Blinde träumen. Du weinst auf. Stoßweise. Aber die Abstände dazwischen werden größer. Ich bewache Deinen Atem, spüre, wie Dein Brustkorb sich unruhig hebt und senkt, lege mich wie eine Muschel schützend um Deinen Körper. Ich atme extra ruhig und gleichmäßig. Versuche, Dich in den Schlaf zu atmen. Ich spüre, wie Dein Körper schwerer wird, sich in meinen hineinsenkt. Du atmest tiefer und regelmäßiger. Ich versuche, mein Bein millimeterweise unter Deinem hervorzuziehen. Spüre, wie Du auf jede kleinste Bewegung mit Unruhe reagierst. Ich lese in Deinem Atem, wann ich mich wieder ein Stück weit von Dir befreien kann. Es dauert eine halbe Stunde, bis ich mich von Dir gelöst habe.

 

Ich lege mich vor Dich und lese in Deinem Gesicht, dass Du merkst, wie ich Dich im Schlaf betrachte. Eine Träne liegt in der kleinen schattigen Grube Deines Auges. Ich bewache sie argwöhnisch. Wenn sie über Deine Nasenwurzel rollt, würde sie Dich wieder wecken. Doch ich wage es nicht, sie wegzutupfen. Warte auf einen günstigen Moment, in dem Dein Atmen einen kurzen Tiefschlaf signalisiert, und tippe die Träne mit meinem Fingerknöchel ab. Deine Hände sind kühl. Doch die Decke kann ich erst über Dich legen, wenn Du noch tiefer schläfst. Erst, wenn ich es wagen kann, mich neben Dir aufzusetzen.

 

Mittlerweile hat die Sonne die oberen geschossenen Zweige des Pfirsichbaums erreicht. Ich sitze bewegungslos auf dem Sofa und schreibe. Da auch die Flüstertastatur zu laut wäre, ist die Bildschirmtastatur meine Rettung. Du atmest geräuschvoll. Schläfst minutenlang scheinbar friedlich. Bis irgendetwas Deinen Körper aufschreckt und Du Dich aufweinend zur Seite wirfst. Du findest keine Ruhe. Die Sonne wandert ins Zimmer.

 

Ich schreibe und schreibe. Das lautlose Tippen meiner Finger auf dem Tablet erlöst mich von Deinem Schmerz, der mich unablösbar an Dich bindet. Sein Rhythmus folgt dem Rhythmus Deines Leidens. Vielleicht ist genau das das Mysterium der Erlösung durch das Schreiben. Die Aufzeichnung des Schmerzes nimmt ihm für die Länge eines Wortes seine Macht. Du schläfst jetzt ruhiger. Rollst Dich im Schlaf auf mich zu. Deine geschlossenen Augen kneifen sich noch manchmal kurz zusammen. Chinese des Schmerzes. Dazwischen gleichst Du einem Engel. Warum nur hast Du Dir uns ausgesucht?

 

3WetterTaft

 

Im Bad steht seit kurzem eine große schwarze Dose Haarlack: 3-Wetter-Taft mit Koffein und der Powerformel. Daneben Syoss Haargel „Leichte Kontrolle und mittlerer Glanz“. Mein Sohn ist fünfzehn. Sein Haar trägt er jetzt cool nach hinten gegelt wie James Dean. Milo liebt es, sich lässig mit den Fingern durchs Haar zu fahren. Und kann ein Smile nicht unterdrücken, wenn seine Schulfreundinnen ihn „so süüüß“ finden.


Wer sagt, dass schwerbehinderte Jungs keine coolen Teenies sein wollen?!? Wenn Milo mit Haartolle und Hoodie im Rolli sitzt, sieht man ihm an, dass er weiß, wie cool er in seinem Outfit ist. Auch wenn er sich selbst nicht sehen kann. Seine Fans auch nicht. Aber spüren kann er sie. Und hören. „Krach“ heißt die CD, die er von mir zum Geburtstag bekommen hat. Mit Rockmusik. Laut wie die E-Saite der Gitarre, die Milo gerne zum Snarren bringt wie ein echter Rocker.


Milo ist fünfzehn. Und lebt seit zwei Jahren in einer WG in der Eifel. Mit drei Jungs und drei Mädels. Alle schwerst-mehrfachbehindert. Milo fühlt sich wohl hier. Weil er so sein und bleiben darf, wie er ist. Weil man seine Signale versteht. Auch ohne Sprache. Und weil man ihn so annimmt, wie er ist: ein „offenes zugewandtes Wesen mit eigenen Vorstellungen vom Ablauf der Dinge“ , wie es seine BetreuerInnen im Teilhabeplan so treffend beschreiben. Manchmal stellt er sich eben vor, vierzig Stunden am Stück zu schlafen. Das darf er dann auch. Und wenn er zwei Nächte hintereinander wach bleiben möchte, darf er das auch. Milo wird hier nicht nur bestens versorgt und geliebt. Er darf hier Teenie sein, bis in den Tag hinein schlafen, wenn er will, essen, was er gerade möchte und chillen, wenn ihm danach ist. Und SchulfreundInnen dürfen ihn hier auch besuchen ;-)


Die Schule ist nur ein paar hundert Meter weit entfernt. Wenn Milo mal länger braucht, um wach zu werden, darf er auch mal später kommen. Und wenn er im Unterricht müde wird, geht er schon mal früher nach Hause. Vielleicht geht er ja gerade deshalb so regelmäßig. Fast jeden Tag. Als er noch zu Hause wohnte, klappte das viel seltener. Dabei liebt er es, unter Kindern zu sein, Krach zu hören und Krach zu machen. In der Trommel-AG hat er letztens sogar schon einen Orden bekommen. Schlafen kann Milo nach einem Schultag auch viel besser. Und steht morgens ausgeruhter wieder auf.


Ich staune. Und ich bin stolz auf ihn. Und auch ein bisschen auf uns. Dass Milo so ist, wie er ist. Dass er es geschafft hat, sich alleine zurechtzufinden. In der neuen Umgebung. Unter neuen Kindern. Mit neuen Menschen um ihn herum.


Und ich freue mich. Dass Milo sich freut, wenn er mich erkennt. Es geht mir gut, wenn ich bei ihm bin. Weil es ihm dort gut geht. Und ich gehe mit leichtem Herzen. Weil ich ihn gut umsorgt weiß. So dass ich mich freuen kann aufs nächste Wiedersehen.


Manchmal sind mir die wenigen Stunden mit ihm zu wenig. In den Ferien hatte ich mir eine Wohnung gemietet. Und wir konnten dort den Tag gemeinsam verbringen. Abends durfte er wieder in sein vertrautes Bett. Und ich in Ruhe schlafen.


Nie hätte ich mir das vorstellen können. Die Entscheidung, dass Milo nicht mehr bei uns wohnen sollte, fühlte sich so an, als sollte ich mir den eigenen Arm amputieren lassen. Die Sehnsucht bleibt. Und wird manchmal auch zu Schmerz. Aber Freude und Stolz wiegen ihn auf.


Milo hat selbst mit entschieden, bei uns auszuziehen, so will es mir jetzt im Nachhinein scheinen. Auch Milo will und wird sein eigenes Leben führen. Er geht ihn jetzt schon, seinen eigenen Weg. Das ist nicht anders als bei sogenannten „normalen“ Kindern. Wir Mütter und Väter können darüber nur staunen. Wie über den Haarlack im Bad oder den blonden Flaum, der plötzlich auf seiner Oberlippe wächst. Und ein ganz klein wenig auch schon an seinen Wangen.

 

 

 

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