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Leserbrief zu „WER BIST DU?“, der Foto-Kolumne im Zeit-Magazin von Florian Jaenicke über seinen Sohn Friedrich

 

http://www.florianjaenicke.de/fotokolumne-zeit-magazin

 

„Wer bist Du?“ fragt Dich Dein Vater, lieber Friedrich. Du kannst ihm nicht antworten. Nicht mit Worten. Sprechen kannst Du auch mit zwölf Jahren noch nicht. Deshalb macht er sich ein Bild von Dir. Denn Dein Vater Florian Jaenicke ist Fotograf. Mit seinen Fotos sagt Dir Dein Vater „Ich liebe Dich!“ Dem Betrachter zeigen sie stolz: „Seht her, das ist mein Sohn!“ Du kannst die Fotos Deines Vaters nicht lesen. Doch Du kannst Dinge lesen, die Dein Vater nicht sehen kann. Seine Frage „Wer bist Du?“ verstehst Du nicht. Dein Blick ist Deine Antwort.

 

„Wer bist Du?“ antwortest Du dem Betrachter. Deine Augen sehen uns nicht an, und scheinen uns doch zu durchschauen. Freundlich, neugierig und vorbehaltlos. Du strahlst Zuversicht aus und Selbstvertrauen. Lebensfreude und eine Klugheit jenseits sprachlicher Vernunft. Dein Blick stellt uns eine Frage. Dein Blick stellt uns in Frage.

 

Ich erkenne keine Spuren von Leid, keinen Hinweis auf Schmerz, keinen Ausdruck von Mangel in Deinem Gesicht. Obwohl ich weiß, dass Du mehr Schmerzen durchlebst als andere und viele Dinge nicht kannst, die für die meisten Menschen selbstverständlich sind. Wie sitzen, laufen oder sprechen. „Wer bist Du, dass Du Dir ein Bild von mir machst?“ fragst Du zurück. Und „Was Du in mir siehst, bist Du das nicht selbst? Ist es nicht Deine Angst vor eigenem Verlust, Versagen und Schmerz; letzten Endes vor dem Tod?“

 

Florian Jaenickes Fotos von seinem schwer mehrfachbehinderten Sohn Friedrich zeigen uns, was wir nicht sehen wollen. Sie halten dem Betrachter den Spiegel vor. Genau das macht sie zum Skandal. Denn Begegnungen mit Kindern wie Friedrich rühren an die Wurzeln unserer eigenen Existenz. Und stellen zugleich unsere moralischen und gesellschaftlichen Werte in Frage.

 

Körperlich und geistig schwer beeinträchtigte Kinder setzen dem Leistungsgedanken als Motor des Kapitalismus ihre umfassende Hilfsbedürftigkeit entgegen. Dem Machbarkeits-Wahn der modernen Wissenschaftswelt den maximalen Kontrollverlust. Und der Spaß-und-Event-Gesellschaft ihre Schmerzen und ihr unverdientes Leid.

 

Für Kinder wie Friedrich gehören Freude genauso wie Schmerzen ganz selbstverständlich zu ihrem Leben. Sie durchleben beides mit der gleichen überwältigenden Intensität, die uns als Betrachter sprachlos macht. „Was für ein schweres Schicksal“, sagt unser Verstand. Unser Wissen macht uns blind. Blind für das, was Kinder wie Friedrich uns voraus haben. Ihre ansteckende Lebensfreude, ihre unstillbare Neugier auf das Hier und Jetzt, ihr fragloses Bei-sich-sein in jedem einzelnen Moment.

 

All das kann man auf den Fotos von Friedrich sehen, die sein Vater Florian Jaenicke uns von ihm zeigt. Denn Jaenickes Fotos bestätigen nicht das, was wir von Kindern wie Friedrich schon zu wissen meinen. Sondern sie richten unsere Wahrnehmung auf das, was diese Kinder uns geben können. Das macht sie so einzigartig und wertvoll.

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